Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
er ein- oder zweimal pinkeln gewesen, doch war es fraglich, ob er zu dem Zweck ein Lid mehr als nötig gehoben hatte –, und erwachte am Morgen des Samstags, den 1. Mai (Ultimo Fiskus verstrichen), gegen 9:00 Uhr zum Plappern des Fernsehers und Rauschen eines Wolkenbruchs, der die schmale Straße vorm Hotel in einen zweistromigen Bergbach verwandelte.
Im Telefonat mit Edda erfuhr er, daß sich die Anarchos in der Schanze, in Kreuzberg und anderswo besseres Krawallwetter nicht hätten wünschen können: Hochsommerliche Temperaturen bis in die Nacht waren angesagt. Sie frühstückte gerade auf dem Balkon, und Onno konnte das Gurren der Tauben in der Leitung hören. »Ich vermiß dich, Neun’neunzig«, sagte Onno, und Edda: »Sprich deutlicher, das klingt immer so billig.«
Und es war gar keine Frage, die er tiefergehend hätte mit sich selbst erörtern müssen oder auch nur wollen: Am Nachmittag saß er den dritten Tag in Folge am Terrassentisch der Villa Tussi. Auch diesmal hatte er das Handy im Hotel gelassen, nicht aber Badezeug und – Raimunds Kompaktkamera.
Es war ungefähr 17:00 Uhr, als ein Helikopter die bereits aufs neue verdichtete Luft über der Bucht aufquirlte. Hochkantig grinsend blinzelte Händchen gegen den Himmel, der, von einer gazeverhüllten Sonne gespeist, diesig leuchtete, und sagte: »Naaa?« Wachsam, doch gelassen wie ein Chamäleon, das sich der Kraft, Schnelligkeit und Reichweite seiner Zunge jederzeit sicher sein kann.
»Was«, erkundigte sich Fiona.
Und Tetropov: »Schickt der ’n Detektiv hinter uns her?«
Onnos Wiederkunft war geradezu pfingstlich gefeiert worden – herzlicher noch als seine Epiphanie zwei Tage zuvor. Er trug die kleine Canon-Digitalkamera am Riemen über der Schulter wie der unschädlichste Touri, legte sie einfach neben der von Fiona auf dem Tisch ab, und weder Fiona noch Tibor Tetropov schienen es registrieren zu sollen für auch nur niedrigstgradig vonnöten zu halten. Weder machten sie die harmloseste Bemerkung, noch warfen sie auch nur einen Blick.
Zum Auftakt hatte es Blätterteigpastetchen nebst Kaffee gesetzt, und währenddessen hatte Fiona einen Farbausdruck aus dem Haus geholt und Onno strahlend vorgelegt. »Ist der«, schnurrte sie, als habe sie das Motiv grad an einer Schießbude auf dem Hamburger Frühjahrsdom erlegt, »nicht süß?«
Eine Art Nager im Winterschlaf nämlich. Harmloser als ein Topflappen. M. a. W.: Onno. Augenlider geschlossen, Mund geöffnet. Sein Nacken mit der Lehne des weißen Sofas auf Gehrung, und von dahinter strahlte die Leselampe des Deckenfluters in die Linse. Dieses Gegenlicht zeitigte zwei Effekte:
Erstens milderte sich das Grelle des Sonnenbrands, zumal im Zusammenwirken mit dem üblichen fünftägigen Salz-und-Pfeffer-Bart.
Zweitens einen billigen Nimbus, der ohne die Strahlung der Augen allerdings jeglicher echten Aura entbehrte. »O Gott!« sagte Onno, ehrlich bestürzt.
Händchen lachte glucksend, und dann begann er – den gestrigen Katzenjammertag ausblendend, als sei er nie geschehen – mit der weiteren Nachlese des vorgestrigen Abends: Genußmittelverbrauch, Onnos »mangelnder Grip« zu vorgerückter Stunde, Highlights des Sprücheklopfens.
Unterdessen machte Fiona »einen Shoot«. (Jedesmal, wenn Fiona »Shoot« sagte, dachte Onno: Schut. Karl May, Der Schut. Und: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Im Sommer 1964 hatte er nicht nur den Roman verschlungen, sondern zusammen mit Raimund und dessen Eltern von Wilhelmsburg bis in die Mönckebergstraße zur Uraufführung des Kinofilms fahren dürfen [in einem elfenbeinfarbenen Opel Rekord A, dessen zuckerstangenhafter Tachometer vom Gelblichen ins Rote schlierte, wenn Hermann Böttcher auf über 100 km / h beschleunigte!], und noch heute konnten sowohl er als auch Raimund den Namen von Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah herunterrattern wie im Sommer 1964, als sie per Stoppuhr geprüft hatten, wer es schneller brachte. [Raimund; Onno hatte ihn allerdings im durchaus nicht unbegründeten Verdacht, ganze Silben zu verschlucken. Wohingegen Raimunds Theorie war, Onno lasse das R am Ende zu lang rollen. Hadschi halefomarbenhad schiabulabbasi bnhadschi dawuhdalgossa rrrrrrah.] Und schon damals war übrigens klar, wer von beiden Lex Barker würde und wer der ewige Ralf Wolter.) Während Tibors Laudatio auf den Humor Ottos (der völlig vergessen hatte, daß er jene
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