Operation Genesis (Ein Delta-Team-Thriller) (German Edition)
Vielleicht hatte er, da er so lange nicht mehr unter Menschen gewesen war, verlernt, gewisse Untertöne zu interpretieren.
»Selbst Götter haben ihre Tiefpunkte«, meinte er. »Die Titanen wurden von Zeus besiegt. Seth sperrte Osiris in einen Sarg und versenkte ihn im Meer. Jesus wurde ansKreuz genagelt. Natürlich gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen ihnen und den Göttern, die hier ihren Sitz haben.« Er blickte Sara erregt an. »Diese sind real! Und ich bin ihr Vater.«
»Hier lebt doch niemand«, wandte Sara ein und unterdrückte eine neue Welle von Übelkeit.
»Aber bald«, sagte Weston. »Ich habe den Kindern verboten, hier zu wohnen, bevor alles restauriert ist. Aber es sind nur noch ein paar Dächer zu ersetzen, dann wird in dieser Kammer wieder der Gesang der Nguoi Rung erschallen.«
Sara stellte sich Lucy als Opernsängerin vor und hätte beinahe laut aufgelacht. Es war eine absurde Vorstellung. Trotz ihrer halb menschlichen Abstammung wirkten sie alle so primitiv und grobschlächtig, dass Sara ihre Zweifel hatte, ob irgendeiner von ihnen überhaupt einen Ton halten konnte. Aber sie würden ja auch keine Opern singen, sondern ihre neu errungene Herrschaft über den Planeten bejubeln. »Wie können Sie behaupten, dass die Neandertaler ein größeres Recht haben, auf der Erde zu leben. Sie sind doch auch ein Mensch.«
Weston wurde zornig. »Neandertaler und Menschen haben das gleiche Recht zu leben. Wenn ich Sie freilasse, würde ich vielleicht die menschliche Rasse retten, die Neandertaler aber zum Untergang verurteilen.«
»Wenn Sie uns nicht fortlassen, verurteilen Sie die ganze Menschheit zum Tod. Mehr als sechs Milliarden«, seufzte Sara. Ihr war klar, dass Weston ihr nie so weit vertrauen würde, sie mit dem Heilmittel gehen zu lassen. Der Mann war ein halsstarriger Idiot, der viel zu sehr in seine Mischlingskinder vernarrt war, als dass er sich um irgendjemanden sonst kümmerte. »Sie werden nie einer von ihnen sein.«
Weston beruhigte sich, und einen Moment lang wirkte er traurig. »Das ist wahr. Ich bin ihnen so ähnlich geworden, wie ich nur konnte. Ich habe ihre Bräuche angenommen. Ich habe ihre Sprache lesen und schreiben gelernt. Ich habe ihre vergessene Geschichte entschlüsselt und ihre Welt kartografiert. In gewisser Weise bin ich den ursprünglichen Neandertalern, die diesen Ort erbaut haben, ähnlicher als die Mütter meiner Kinder. Doch das Entscheidende ist, dass meine Kinder mich akzeptieren … genau, wie sie Sie mit der Zeit akzeptieren werden.« Er wedelte mit der Waffe. »Vorwärts.«
Sara näherte sich ängstlich dem Rand der Klippe. Gerade hatte er doch noch angedeutet, sie am Leben lassen zu wollen. Aber Weston war schon lange nicht mehr bei klarem Verstand. Bevor sie den mehr als hundert Meter tiefen Abgrund erreicht hatte, stieß sie einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. An der Wand des riesigen Hohlraums im Berg zog sich eine in den Felsen gehauene Treppe entlang, die sie vorher nicht hatte sehen können. Was hatte Weston mit ihr vor?
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie, während sie die Treppe hinunterstarrte.
»Ich will den Neandertalern wieder zu ihrer ursprünglichen Größe verhelfen. Sie waren ein erstaunliches Volk. Zivilisiert, viel weiter entwickelt als der kriegerische Homo sapiens ihrer Zeit. Doch dazu müssen sie noch viel lernen.«
Sara hielt inne und sah sich um. »Sie wollen, dass ich sie unterrichte?«
»Wer wäre besser dafür geeignet?«
»Hm, so ungefähr jeder.«
»Sonst ist keiner da.«
»King ist …«
»… ein Killer«, fiel Weston ihr ins Wort. »Und ich fürchte, er wird nicht aufgeben, bevor er tot ist.«
Sara stieg wortlos die Treppe hinunter. Sie konnte nichts gegen Weston ausrichten, und schon gar nicht gegen seine superstarken, superschnellen Kinder. Flucht war für sie keine Option.
Oder doch? Seit sie das Höhlensystem betreten hatten, war weit und breit kein Nguoi Rung zu sehen gewesen. Und die Stadt lag verlassen. Allein mit Weston, das mochte ihre einzige Chance zur Flucht sein.
Aber erst musste sie in Erfahrung bringen, was das Heilmittel gegen Brugada war.
Sie warf einen Blick zurück.
Er war größer, stärker und zweifellos wilder als sie, dazu hatte er ein Messer und eine Pistole. Saras Leben lag in seiner Hand. Sie fragte sich, ob sie je wieder die Außenwelt sehen würde. Sie sehnte sich danach. Sie wollte ihre verqueren Sinneswahrnehmungen wiederhaben. Sie wünschte sich den Lärm und das
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