Operation Genesis (Ein Delta-Team-Thriller) (German Edition)
Rippenbogen. Sie war regelrecht zerfleischt worden. Von irgendeiner Art von Tier.
»Und ihr Kopf, an der Schläfe«, dirigierte King ihren Blick.
Sara sah zwei runde Löcher in der Seite des Schädels klaffen, wo ein großer Kiefer zugebissen hatte.
»Ein Tiger?«, mutmaßte sie. In Vietnam gab es noch ein paar Hundert davon. Die Spezies stand am Rande des Aussterbens. Aber eine andere Möglichkeit sah sie nicht.
»Es gibt zwar menschenfressende Tiger, aber die verhalten sich nicht so.«
Saras Gedanken wanderten zu der Theorie, dass das annamitische Gebirge eine Art Arche Noah sei – immerwieder wurden in dieser Wildnis neue Säugetierarten entdeckt. Und während des Vietnamkriegs hatte die Region unter großem Selektionsdruck gestanden. »Vielleicht sind die Tiger in den Annamiten anders? Ein Fall von Hyperevolution.«
Er wartete auf eine Erklärung.
»Wenn eine Spezies sehr isoliert lebt, so wie hier, nimmt sie oft eine ganz spezielle Entwicklung. In Australien beispielsweise, wo die Evolution schon vor Millionen von Jahren einen eigenen Weg eingeschlagen hat, sehen wir heute eine ganz und gar einzigartige Ansammlung von Säugetierarten.«
»Galapagosinseln. Darwin. So weit kann ich folgen.«
»In bestimmten Situationen – wenn Nahrung knapp ist oder andersherum sogar überreichlich vorhanden – beobachten wir sehr schnelle Evolutionsschritte. Im Labor ist es gelungen, die Evolution um dreihundert Prozent zu beschleunigen, aber in der Wildnis, in Extremfällen, kann sich die Veränderung innerhalb weniger Generationen vollziehen. Wenn Nahrung überreichlich vorhanden ist, stoßen wir auf einen Prozess, der Plastizität genannt wird. Die sich entwickelnde Spezies nimmt mehr Nahrung zu sich, wächst schneller und reproduziert sich in immer jüngerem Alter, ein perfektes Szenario für eine schnelle Evolution durch beschleunigten Generationswechsel.«
»Wie Karnickel.«
»Genau. Wenn genug Futter vorhanden ist, explodiert eine Kaninchenpopulation regelrecht.«
»Das hier waren aber keine Kaninchen.«
»Nein, Plastizität ist es nicht … wenn der Mensch ein Habitat sozusagen einkreist, finden wir meistens Hyperevolution durch Nahrungsknappheit oder extreme Konkurrenz zwischen den Spezies vor. Das führt ebenfalls zubeschleunigter Evolution. Seit der Mensch Kodiakbären jagt, werden sie immer kleiner, schneller und dadurch schwerer zu finden. Eichhörnchen, Waschbären und Falken haben sich an das Leben in Großstädten angepasst. In Los Angeles gibt es mehr als fünftausend Kojoten. Sie sind listiger geworden. Schneller. Kleiner.«
»Klingt so, als könnte dabei leicht auch ein Superraubtier herauskommen. Durch scheues Verhalten und Weglaufen kann man sich vielleicht eine Weile lang retten, aber irgendwann muss man kämpfen, um zu überleben.«
Sara sah ihn an. »Möglich wäre es.«
»Trotzdem ergibt das hier keinen Sinn.« King schüttelte den Kopf. »Ein Tiger tötet, um zu fressen. Er hätte keinen Grund, ein ganzes Dorf auszulöschen. Selbst ein hyperentwickelter Tiger.«
»Manchmal manifestiert sich die Evolution auch als psychologische Veränderung und es kommt zu extremem Revierverhalten und Gewalttätigkeit. Ein Tiger, der in ein neues Territorium verdrängt wird, könnte die menschliche Population als Konkurrenz betrachten und …«
»So etwas wie das hier tun.«
»Theoretisch. Aber Hyperevolution erfordert eine echte Veränderung des genetischen Codes, was längere Zeit dauert – selbst Hyperevolution in Szenarien mit beschleunigter Vermehrung. Möglicherweise ist bei Tigern diese Verhaltensvariante bereits einprogrammiert. Es wäre vorstellbar, dass sie über latente Fähigkeiten und Instinkte verfügen, die erst durch bestimmte Situationen aktiviert werden.«
»So etwas ist denkbar?«
Sara nickte leicht und versuchte, das viele Blut zu ignorieren. »Genetische Assimilation. Die Gene einer Kreatur, ob Tiger, Mensch oder Hai, bleiben trotz phänotypischerWandlungen – also eventueller Unterschiede im Aussehen – oder neu entwickelten Verhaltensmustern im Grunde unverändert. Der genetische Code ist intakt, aber seine Ausformung wird von den Umweltbedingungen beeinflusst.«
»Als würde man dieselbe Melodie über unterschiedliche Lautsprecher abspielen.«
»Genau. Die Musik ist in ihrer Gesamtheit noch da, aber manche Lautsprecher haben mehr Bass als andere, so dass eine Vokalspur darin untergeht. Nehmen wir mal an, eine Insel wäre von auf dem Boden lebenden Eichhörnchen
Weitere Kostenlose Bücher