Operation Romanow
europäischen Territoriums. Japan war in den fernen Osten Russlands eingefallen, und die russische Verteidigung war fast überall zusammengebrochen.
Bestürzt warf Andrew die Zeitung aus der Hand. Die Sinnlosigkeit des Krieges widerte ihn an.
»Gute Nachrichten, Mr Andrew?«, fragte die Wirtin, die sich anschickte, den Tisch abzuräumen.
»Sie töten einander noch immer. Dieser dumme, Krieg geht endlos weiter!«
Madame Bisenko schüttelte den Kopf. »Sie sind alle verrückt. Wenn sie genug davon haben, sich gegenseitig zu erschießen, nehmen sie vielleicht Vernunft an und hören auf.«
»Darauf würde ich nicht hoffen.« Andrew trank den Tee aus und stand auf. Er wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen.
Als Andrew auf dem Fahrrad durch die belebten Straßen von Whitechapel fuhr, wimmelte es auf den Bürgersteigen von Passanten und Soldaten in Uniform. Das Gedränge der Menschen und der Gestank der Abgase machten ihm zu schaffen. Das alte schwarze Raleigh-Fahrrad war ein Geschenk seines Chefs gewesen, und Andrew hatte sich sehr darüber gefreut.
Er wunderte sich darüber, wie viele Nationalitäten in London aufeinandertrafen. Neben den Zehntausenden von Soldaten hielten sich in der britischen Hauptstadt Menschen aus aller Herren Länder auf: Weiße und Rote Russen, Franzosen, Belgier, Serben und Italiener, um nur einige zu nennen.
Hunderttausende ausländische Flüchtlinge waren seit Beginn des Krieges in die Stadt geströmt, und viele von ihnen konnten aufgrund der anhaltenden Feindseligkeiten vorerst nicht in ihre Heimat zurückkehren. Auf den Bürgersteigen hörte man die unterschiedlichsten Sprachen. Restaurants, Kneipen, Cafés und Herbergen waren überfüllt.
Als Andrew auf das Zentrum von Whitechapel zufuhr, sah er die schwarzen Ruinen von Gebäuden, die durch Bomben und Feuersbrünste zerstört worden waren.
Obwohl Krieg herrschte und das Benzin rationiert wurde, drängten sich in den Geschäften unzählige Menschen. An den Marktständen gab es ein reichhaltiges Angebot an frischen Nahrungsmitteln und Gemüse. Straßenverkäufer verkauften auf Kohle geröstete Kastanien, während die Italiener mit ihren Imbissbuden, in denen Bratfisch mit Pommes frites angeboten wurde, ihr Geld verdienten. Für vier Pence bekam man ein gutes Essen aus Fisch und dick geschnittene frittierte Kartoffelstäbchen, das in alte Zeitungen eingewickelt wurde.
Andererseits gab es auch ärmliche Hinterhofgassen, in denen Kinder barfuß herumliefen. Der Krieg verschaffte vielen Arbeit, aber längst nicht allen. Die Menschen mit den ausgemergelten Gesichtern, die in den Mietskasernen in London wohnten, in denen das Geschäft mit der Prostitution blühte, waren von Armut gezeichnet.
Andrew fuhr einen Fußweg entlang, der durch den Hyde Park führte, und stieg ab. Auf einem überdachten Podium spielte eine Blaskapelle. Sie erinnerte ihn an die Militärorchester, die im Sommer in den Sankt Petersburger Parkanlagen spielten. Seit seiner Flucht aus dem Gefangenenlager waren erst vier Monate vergangen, doch es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Inzwischen war so vieles geschehen.
Die Blaskapelle beendete ihr Medley, und nun hallten die beschwingten Klänge eines Walzers durch den Park. Als Andrew die ersten Takte vernahm, musste er sofort an seine Frau und seinen Sohn denken. Nina liebte diese Musik. Zu Tränen gerührt kniff er die Augen zusammen. Sofort stellte er sich zahllose Fragen: Wie kommt ihr zurecht, Nina und Sergej? Was macht ihr? Seid ihr in Sicherheit und wohlauf?
Dann stiegen die düsteren Erinnerungen an Stanislaws brutale Ermordung in ihm auf. Die Bilder ließen ihn nicht mehr los. Und auch nicht die Schrecken der Tage nach seiner Flucht, als er sich bis Sankt Petersburg durchgeschlagen hatte, um Nina und Sergej zu sehen, während ihm die Verfolger immer auf den Fersen gewesen waren. Der Gedanke, Leonid Jakow würde glauben, er hätte Stanislaw getötet, setzte Andrew furchtbar zu. Als er dort, mitten in London stand und versuchte, den Kummer zu verdrängen, sah er eine junge Mutter, die mit einem kleinen blond gelockten Jungen an der Hand durch den Park spazierte.
Andrew starrte der Mutter und dem Kind nach, bis sie am Ende des Weges aus seinem Blickfeld verschwanden. Die Trauer überwältigte ihn, und er fühlte sich unsäglich einsam. Die schmerzvolle Erinnerung an die letzte Begegnung mit Nina und Sergej quälte ihn. Sie lebten allein in einer kalten Wohnung in einem verkommenen Elendsviertel von Sankt Petersburg
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