Opfere dich
Vergangenheit. Hatte Gil kurz vor seinem Tod geweint, vor Wut oder Hilflosigkeit oder beidem? Sie schluchzte herzzerreißend.
„Ich halte dich für arrogant und abgebrüht“, hatte der Wachsmörder bei ihrem Telefonat gesagt, aber er lag falsch. Genauso wie die Medien, die sie als knallharten Cop darstellten, der sich einen Dreck um die Opfer scherte.
Kühl, so mochte Storm auf andere Menschen wirken, aber so war sie nicht, die echte Storm Harper. Sie hatte sich nur in sich selbst zurückgezogen. Nun, da die Tränen flossen, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie seit langem versucht hatte, ihre Emotionen zu unterdrücken. Schuld daran war die Untreue von Gil, den sie von Herzen geliebt hatte. Aber auch der Serienkiller. Der Fall erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Seit anderthalb Jahren funktionierte sie nur noch. Sie bemühte sich, die Grausamkeiten, mit denen sie täglich konfrontiert wurde, nicht an sich heranzulassen. Doch ihre harte Schale wurde immer poröser, und das Grauen drang peu à peu hindurch.
Nun lief das Fass über. Die Gefühle überwältigten sie. Storm schluchzte hemmungslos.
13.
Die vergangene Nacht war die Hölle gewesen. Storm hatte kaum geschlafen. Immer wieder war Megans ängstlicher Blick vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, und sie hatte ständig die kritischen Äußerungen aus den Medien im Ohr gehabt. Storm war unfähig, ihre Gedanken auszuschalten. Nun, da ihr Schutzpanzer aufgebrochen war, kam sie sich schwach und verletzlich vor. Am erschreckendsten war, dass sie sich sogar schon fragte, ob die Menschen nicht recht hatten, wenn sie sie dazu drängten, sich zu opfern. Wenn so viele der Meinung waren, dass man eine Frau opfern sollte, um viele andere Frauen zu retten, musste doch etwas Wahres dran sein, oder etwa nicht?
Es klingelte an der Haustür. Storm, die sich gerade angekleidet hatte, kam aus dem Schlafzimmer, verwundert darüber, dass ihr Personenschutz jemanden hatte passieren lassen. Oder hatte die Presse, die vor ihrem Haus campierte, die Officer überlistet? Sie würde keinesfalls ein Statement abgeben! Strikte Anweisung von Commissioner Lombard. Aber auch weil sie dem Wachsmörder keinen Anlass geben wollte, durch einen unbeabsichtigten Schlüsselreiz seinen Frust oder seine Wut an Carol Frost abzureagieren. Ihr fiel wieder ein, dass sie die Mutter einer Dreijährigen war. Wie grausam doch die Wirklichkeit sein konnte!
Storm ging zur Haustür und öffnete sie einen Spaltbreit.
„Morgen“, begrüßte Officer Benhurst sie lächelnd. Er hatte die Kapuze seiner blauen Regenjacke über den Kopf gezogen und hielt sie mit beiden Händen fest.
Es schüttete wie aus Eimern. Und da waren sie immer noch, die Hyänen. Die Kameras klickten, nur weil sie sich an der Tür zeigte. Hofften sie auf ein verheultes Gesicht? Irgendetwas Dramatisches, das Einschaltquoten brachte? Sie hatte ihre vom Heulen geröteten Augen am Morgen gekühlt und lauwarme Teebeutel auf die Lider gelegt, damit die Schwellung zurückging. Beides hatte mäßig geholfen.
„Komm rein“, sagte Storm und öffnete die Tür weiter.
Ben schüttelte die Regentropfen ab, trat ein und schloss rasch die Tür hinter sich. „Wie Geier, die auf Aas warten.“
„Aber ich bin noch nicht tot.“
„Bis dahin hast du auch noch fünfzig Jahre Zeit.“ Er zwinkerte und reichte Storm ihren Parka, der an der Garderobe hing. „Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Zu zweit kämpft es sich leichter durch ein Meer von Haien.“
Das letzte Mal, als sie ein Mann abgeholt hatte, hatte der Tag in einem Fiasko geendet. „Du bist extra bei mir vorbeigefahren?“
Während sie sich anzog, lehnte er sich mit verschränkten Armen gegen die Wand und beobachtete sie. „Dein Haus liegt auf meinem Weg zum Revier. War kein Umweg.“
„Aha.“ Storm prüfte ihre Waffe, obwohl sie das nach dem Frühstück schon getan hatte. Bens Blicke machten sie nervös. Sie mochte es gar nicht, taxiert zu werden, besonders nicht von einem gutaussehenden Mann, weil sie sich dadurch ihrer Unzulänglichkeiten bewusst wurde. Begutachtet zu werden gefiel ihr ebenso wenig, weil ihr das Risiko, abgelehnt zu werden, zu groß war. Es war ja nicht so, dass sie sich hässlich fand. Aber sie musste im Job ihren Mann stehen, und außerdem saß der Stachel von Gils Untreue noch tief. Daher kleidete sie sich in letzter Zeit eher burschikos. Sie war nicht das adrette Püppchen, das viele Männer – besonders attraktive wie Ben – an ihrer Seite
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