Opfermal
genauso lernen wie austeilen – aber nur, wenn dir einer blöd kommt. Du darfst nie eine Schlägerei anzetteln, verstanden? Ein Enkel von mir wird nicht zum Schläger. Du bist doch keiner von den Schlägern in der Schule, oder, Eddie?«
»Nein, Sir.«
»Braver Junge. Genau wie dein Onkel. Wenn wir Onkel James das nächste Mal besuchen gehen, kannst du ihn fragen, wie er in deinem Alter war. Er war ebenfalls ein Kämpfer. Ein guter.«
Edmund mochte seinen Onkel James eigentlich nicht. In all den Jahren, in denen er ihn mit seinem Großvater im Gefängnis besuchte, sah ihn James Lambert nie direkt an – er presste nur hin und wieder die Lippen zusammen und zog seine linke Augenbraue in die Höhe, um den Jungen kurz zu mustern. Und er sprach kaum, nickte nur auf der anderen Seite der Besucherscheibe, während der Alte redete, und am Ende fragte er immer, ob ihm sein Vater Kaugummi mitgebracht habe.
»Was hat er getan, dass er ins Gefängnis musste?«
»Das erzähle ich dir, wenn du ein bisschen älter bist«, sagte sein Großvater und lächelte. »Jetzt nimm die Medizin, Eddie. Nur einen Löffelvoll. Nicht zu viel, nicht zu oft. Sie ist schlecht für dich, wenn du zu viel zu oft nimmst. Und sie schmeckt auch beschissen, aber dafür wird dein Hinterkopf ganz schnell taub und du vergisst den Jungen mit dem Sprungseil völlig. Und das Beste, wenn du am Morgen aufwachst, ist der Schmerz weg.«
Edmund schnupperte an dem Löffel. Es roch ein bisschen nach dem Lakritzaroma, das manchmal im Wohnzimmer hing, wenn Rally da war. Aber es roch auch nach Pine-Sol, dachte Edmund und es schmeckte noch schlimmer – auch wenn er Pine-Sol nie probiert hatte.
Aber Edmund schluckte die Medizin trotzdem, und bald fühlte sich sein Kopf taub an, genau, wie es sein Großvater versprochen hatte. Sie saßen eine Weile zusammen und sahen fern. Dann machte die Zeit einen Satz, und Edmund wachte im Dunkeln auf. Er lag in seinem Bett unter der Decke, und es war sehr spät – er merkte es daran, wie sich ringsum alles anfühlte. Sein Kopf war nicht mehr taub, aber er tat auch nicht mehr annähernd so weh wie zuvor.
Aber jetzt störte ihn etwas anderes. Edmund dachte lange und angestrengt nach und starrte an die Decke. Er sah die Decke nicht, aber er wusste, dass sie da war. Genau wie die Sache, die ihn störte.
Dann fiel es ihm ein.
Der General, sagte er zu sich selbst. Wo ist der General?
Ja, das war es. Er war mit demselben Gefühl aufgewacht, das er normalerweise hatte, wenn er vom General träumte, aber als er nach ihm Ausschau hielt zwischen den großen schwarzen Löchern und der Klebrigkeit, fand er ihn nicht, spürte er ihn nirgendwo.
C’est mieux d’oublier.
Und bei diesen Worten flackerten statt der Anwesenheit des Generals seltsame und ferne Bilder auf, wie er mit etwas kämpfte, das er als einen großen schwarzen Klumpen Schmerz begriff – auf den er einschlug und trat, bis der große schwarze Klumpen verschwand.
Erinnerungen an einen Traum? Höchstwahrscheinlich, aber der Junge wusste es nicht, konnte nicht unterscheiden, ob er tatsächlich von dem Klumpen geträumt hatte oder ihn sich jetzt nur einbildete, da er wach war. Alles, was Edmund Lambert sicher wusste, war, dass der Schmerz in seinem Hinterkopf von dem Sprungseil verschwunden war.
Großvater hat mir die Medizin zuvor gegeben, ohne dass ich es wusste, dachte Edmund. Deshalb kann der General anscheinend in meine Träume kommen – weil ich so tief schlafe. Deshalb brauche ich Großvater, der ihn verjagt. Vielleicht war der General heute Nacht auch da, aber Grandpa hat ihn gleich gepackt. Vielleicht ist der General wie der Schmerz. Nur Großvater kann mich vor beidem beschützen.
Und so schluckte der Junge in den folgenden Jahren viele Male bereitwillig seine Medizin – aber nur nach seinen Schlägereien oder wenn er sich wehgetan hatte, und auch dann nicht immer.
Der richtige Zeitpunkt ist wichtig, sagte sein Großvater. Der Zeitpunkt musste stimmen.
Ja, am Ende hielt Claude Lambert Wort.
Nicht zu viel, nicht zu oft.
C’est mieux d’oublier.
45
Es gab eigentlich nur zwei Gelegenheiten, bei denen Edmund den Verdacht hatte, dass sein Großvater ihm die Medizin aus anderen Gründen gab, als weil er gerauft hatte oder weil er verletzt war: einmal im Sommer 1991, als Edmund elf war, und einmal ein Jahr später im Herbst, kurz nachdem er dreizehn geworden war. Beide Male geschah es ohne sein Wissen, und erst Jahre später begann Edmund den
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