Opfermal
zwei Erscheinungen, die irgendwo hinter ihm flüsterten:
Sei ein braver Junge und trage dieses Seil für mich, ja?
C’est mieux d’oublier.
Dann sah Edmund das Wort G-E-N-E-R-A-L, ein Aufblitzen silberner Buchstaben, die kursiv auf einen dunkelblauen Hintergrund genäht waren. Es war, als würde sich das Wort von hinten an ihn heranschleichen, als würde er nur einen Blick darauf erhaschen, ehe es wieder in das Schwarz eintauchte.
C’est mieux d’oublier.
Dann ein neuer Knacks im Kopf.
Jetzt war da wieder nur der Löwe, der aus dem Grün zu ihm heraufschaute. Edmund strich ihm über die Mähne, seine Hände glitten langsam nach unten, um ihm das Gesicht zu liebkosen. Ein weiterer Erinnerungsblitz, und Edmunds Finger waren im Maul des Löwen. Er nahm irgendwo wahr, dass er die Zähne des Tiers spürte, aber gleichzeitig sah er seine Finger als die seines Großvaters und den Mund des Löwen als seinen eigenen.
Der Löwe schleckte Edmund die Hand – nicht seine Hand, sondern seinen Talisman, das antike babylonische Siegel, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
»C’est mieux d’oublier«, flüsterte Edmund, und plötzlich spürte er etwas Heißes, Feuchtes in seiner Leiste, fühlte es an seinen Beinen hinunterlaufen und merkte, dass sein Gesicht kalt und feucht war, sein Atem stoßweise ging, als würde er weinen.
Weinen?
Edmund konnte sich nicht erinnern, seit dem Tod seiner Mutter noch einmal geweint zu haben, seit diese Fernsehserie mit dem glücklichen kleinen Jungen, der genau wie er aussah, abgesetzt worden war.
Sei ein braver Junge, und trage dieses Seil für mich, ja?
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte Edmund – und plötzlich verrutschte die Gasse erneut, diesmal mit einem Rauschen, und das Grün seines Nachtsichtgeräts wurde heller. Das Limettengelee löste sich auf, die Luft wurde dünner, und jetzt war da nur der Klang von jemandem, der seinen Namen rief.
Edmund sah auf seine Hände hinab. Das babylonische Siegel war verschwunden, und der Löwe entfernte sich – er blickte sich nicht um, als ihn seine schweren Pranken geschwind um die Kurve in der Gasse und außer Sicht trugen.
»Komm zurück«, hörte sich Edmund flüstern. »Komm zurück.«
Er fühlte, wie jemand seine Schulter berührte, hörte seinen Namen, näher jetzt, aber rund um ihn begann es, von den Rändern her bereits schwarz zu werden.
Er wachte im Krankenrevier auf, benommen, aber sauber und trocken und bis auf die Unterwäsche nackt. Die Lichter, die Farben – besonders das Weiß – schienen heller zu sein, und Edmund hörte Finger auf einer Tastatur hämmern.
»Er ist wach, Doktor«, sagte eine Frau links von ihm.
Edmund drehte den Kopf in diese Richtung, aber ein grelles Licht traf in seine Augen; eine Männerstimme jetzt, beruhigend, und eine sanfte Hand auf seinen Augenlidern, die sie aufschoben. Dann war das Licht fort, und an seine Stelle traten große orangefarbene Punkte und viele Fragen. Viele Antworten auch, meist: »Ich weiß nicht«, mit einer kratzigen Stimme geäußert, die nicht seine eigene zu sein schien. Worte wie Dehydration, Hitzschlag, Ohnmacht und halbkomatös drangen an sein Ohr – Fragen danach, was er gegessen hatte, »Ich gebe ihnen soundso viel Milliliter davon und soundso viel Milliliter davon«, und weitere Worte, die Edmund nicht verstand.
Und dann erinnerte er sich und fragte unvermittelt: »Wo ist der Löwe?«
»Der Löwe?«
»Ja«, sagte Edmund. »Der Löwe, der meine Mutter getötet hat.«
»Sie halluzinieren, Soldat«, sagte der Arzt.
Stille. Ein dumpfer Stich in seinen Unterarm.
»Tragen Sie dieses Seil für mich, Doc«, flüsterte Edmund. »Es ist besser, man vergisst.«
»Da haben Sie recht«, sagte der Arzt. »Es ist besser, man vergisst.«
52
Zwei Soldaten wurden bei dem Hinterhalt getötet und zwei verwundet, aber Edmunds Team erwischte acht Aufständische, zum Teil dank Edmunds genauer Kenntnis der Gegend und der raschen Neuorientierung seiner Leute in Richtung Park. Und obwohl Edmund an dem Feuergefecht nicht teilgenommen hatte, obwohl niemand je erfuhr, was in der Gasse passiert war, warfen Edmunds Männer ihm den Verlust ihrer Kameraden nicht vor.
Edmund wäre es allerdings auch vollkommen egal gewesen, wenn sie es getan hätten. All das, sein früheres Leben, es war vorbei. Alles – die Armee, der Irak, Krieg, Aufstand, Tod – war nur Unsinn, bedeutungslos für ihn im Vergleich zu seiner Salbung.
Sergeant Edmund Lambert wurde für
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