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Opfermal

Opfermal

Titel: Opfermal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Funaro
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Gleichung vollkommen. Die anderen waren ebenfalls in der Lage zu verstehen, aber sie mussten umerzogen werden, mussten den Song wieder und wieder hören – alt und neu, alt und neu – bis sie endlich so verstanden, wie er es tat.
    » There were many who came before me, but now I’ve come at last,
    From the past into the future, I’m standing at your door.«
    Der General betrat den angrenzenden Raum – die Umerziehungskammer, wie er ihn nannte – und klebte den Artikel an die Wand. Er trat einen Schritt zurück und bewunderte, wie er inmitten der anderen aussah – Tausende von Botschaften, die er auf seinem Computer ausgedruckt oder während seiner Tages-Existenz auf dem Gerät dort kopiert hatte.
    Alles Bestandteile der Gleichung.
    Der General holte tief Luft. Der Zahnarztstuhl und der Boden waren jetzt sauber, und der Raum roch erfrischend nach Pine-Sol.
    »I thought I heard you calling. You thought you heard me speak.
    Tell me how could you think I’d let you get away?«
    »Dein Körper ist der Eingang«, sagte der General im Einklang mit dem Leadsänger von Clone Six. Und dann setzte der Refrain ein.
    Die Coverversion unterschied sich leicht vom Original, aber die Botschaft war dieselbe – immer dieselbe, immer Teil der Gleichung. Genauso wie es schon lange vor dem Tod seiner Mutter gewesen war.
    Der General dachte oft an seine Mutter, aber nie an seinen Vater. Er kannte ihn nur von einem Jahrbuchfoto, das ihm seine Mutter manchmal vor dem Schlafengehen gezeigt hatte. »Also gut«, sagte sie dann immer, »du darfst deinem Vater einen Gutenachtkuss geben.« Der General konnte sich nicht mehr erinnern, wie sein Vater aussah; nur verschwommene Reihen schwarzer Quadrate waren ihm im Gedächtnis geblieben, die in seiner Erinnerung nach Parfüm und altem Papier rochen. Seine Mutter hielt das Jahrbuch unter einem losen Bodenbrett in ihrem Schlafzimmer versteckt, und der Junge musste ihr versprechen, seinem Großvater nie zu verraten, dass sie es hatte. Und der Junge hielt sein Versprechen.
    Denn schon als Kind hatte der General seine Versprechen immer gehalten.
    Lächelnd verließ der General die Umerziehungskammer, ging den dunklen Flur entlang und betrat den letzten der drei Kellerräume: den Thron-Raum.
    Der General fiel auf die Knie und senkte den Kopf.
    Der Thron-Raum war der kleinste, aber heiligste Raum im Haus. Er hatte seiner Großmutter früher als Einmach-Küche gedient, war nun aber leer bis auf einen großen Holzthron an der Wand gegenüber der Tür. Der General hatte den Thron persönlich aus Kiefernholz gefertigt – er musste leicht genug sein, um ihn tragen zu können, auch das war Teil der Gleichung –, und das weiche Holz hatte es ihm erleichtert, die verschlungenen Muster einzuschnitzen, die Beine, Armlehnen und Rückenteil schmückten. Er hatte den Thron außerdem in Goldfarbe bemalt und ihn mit einem einzigen Punktscheinwerfer beleuchtet, der von der Decke hing. Der General hatte den Scheinwerfer während seiner Tages-Existenz gestohlen, doch im Gegensatz zu dem Bandschleifgerät und anderem Werkzeug, das er an seinem Arbeitsplatz entwendet hatte, hatte ihn sein Chef nie vermisst.
    »Ich werde wiederkommen, mein Prinz«, flüsterte der General, doch die Gestalt auf dem Thron reagierte nicht. Das war in Ordnung. Der General hatte nicht erwartet, dass der Prinz reagierte. Nicht heute. Erst in wenigen Tagen vielleicht, oder spätestens, wenn der General den nächsten Teil der Gleichung erfüllte.
    9:3 oder 3:1 war das richtige Verhältnis, die Gleichung, die den Schlüssel zur Formel enthielt.
    Der Prinz verstand die Gleichung. Und auch wenn er viel verlangte, verstand er außerdem, dass sein General schwer gearbeitet hatte, um die Formel im Gleichgewicht zu halten – er wusste, dass er jetzt Ruhe brauchte. Schließlich war der Prinz selbst ebenfalls ein General. Der oberste General, ein General, der G-E-N-E-R-A-L buchstabiert wurde, der furchtbarste von ihnen allen. »Der wütende Prinz« hatten ihn seine Soldaten auf dem Schlachtfeld genannt, manchmal »der Rasende«.
    Der General stand auf, machte eine flüchtige Verbeugung und schaltete den Scheinwerfer aus. Er stieg die Kellertreppe im Dunkeln nach oben, kam in der Küche heraus und schloss die Tür hinter sich. Er war hungrig, würde aber bis zur Mittagessenszeit warten. Er hatte gelernt, der Versuchung zu widerstehen; er musste bei seiner Ernährungsweise bleiben und seine Muskeln schlank halten. Keine Cheeseburger mehr.

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