Opfermal
konzentrierte sich auf seine Atmung, darauf, seinen Geist in die Geräusche der Nacht und die orangefarbenen Flecken auf der Innenseite seiner Lider zu leeren. Seine Muskeln entspannten sich langsam – es war ein Gefühl des Einsinkens, als würde er plötzlich auf einem Bett aus warmem Sand liegen. Der lange Tag forderte seinen Tribut, und bald schweiften seine Gedanken zu seiner Frau ab, zu dem Nachmittag, als sie nach Rhode Island hinaufgefahren waren, und der Nacht, in der sie sich zum ersten Mal am Strand von Bonnet Shores geliebt hatten. Als sie anschließend zu den Sternen hinaufblickten, hatte Michelle auf das Sternbild Kassiopeia gezeigt. Kassiopeia sei das Sternbild, das sie immer finden könne, hatte sie gesagt.
»Ein guter Seemann findet mithilfe des Polarsterns immer nach Hause«, hatte sie angefügt.
Markham lächelte bei der Erinnerung daran, wie er sie mit seinen Kenntnissen der griechischen Mythologie beeindrucken wollte und erklärt hatte, Kassiopeia sei eine eitle Königin gewesen, die behauptet hatte, schöner als die Göttin Hera selbst zu sein. Damit konnte er bei Michelle jedoch nicht punkten; sie sagte, das wisse jeder, der Kampf der Titanen gesehen habe. Markham lachte, und die beiden summten abwechselnd Teile der schmalzigen Filmmusik.
Lachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt gelacht hatte. Nicht so, jedenfalls. Wie jemand anderer. Wer war der Typ, der am Strand lag? Und wer war der Typ, der hier im Centerfield lag? Sie waren nicht dieselbe Person, aber sie waren beide Fremde.
Markham holte tief Luft und suchte nach Kassiopeia. Er fand sie nicht und machte stattdessen den Polarstern ausfindig. Er schloss die Augen – das Geräusch der Wellen, die an die Küste seiner Erinnerung schlugen. Er hörte, wie Michelle ihn fragte, ob ihm der Name Cassie gefiel. Er hatte bejaht und angefügt: » Falls wir je eine Tochter haben werden, nennen wir sie Cassie. Kurz für Cassiopeia, okay?« Michelle hatte zugestimmt, und er hatte gesagt, dass er sie liebte. Michelle hatte gesagt, dass sie ihn ebenfalls liebte, und dann waren sie dort unter den Sternen eingeschlafen.
Cassie, sagte Markham zu sich selbst. Unsere Tochter soll Cassie heißen.
Dann ein schweres Blinzeln, das Gefühl, nach vorn zu fallen, und Markham schreckte aus dem Schlaf. Einen Moment lang erwartete er, das Meer zu hören – er wusste nicht, wo er sich befand oder wie viel Zeit vergangen war, bis er auf seine Armbanduhr schaute.
1.37 Uhr.
Michelle war verschwunden, und er lag wieder auf dem Baseballfeld. Er war länger als eine Stunde weggetreten gewesen. So unwirklich. So untypisch für ihn. Er musste in sein Appartement zurückfahren und ein wenig schlafen. Wenn er morgen dann ins Büro in Raleigh kam, würden die vorläufigen Laborergebnisse zu Rodriguez vermutlich schon auf ihn warten. Er war froh, dass er bei der Untersuchung nicht dabei sein musste; der Junge war seit fast zwei Monaten in der Erde gewesen.
Markham gähnte und streckte sich und wollte eben seine Sachen zusammenpacken, als er jäh innehielt. Die Sterne – sie sahen irgendwie anders aus, und der Mond stand ein wenig tiefer am Horizont und ein Stück weiter rechts.
Ein guter Seemann findet mithilfe des Polarsterns immer nach Hause.
Markham sah, dass der Stern seine Position nicht verändert hatte, aber die Sterne um ihn herum.
Geringfügig.
Klar, weil er den Pol bildet. Seine Position verändert sich die ganze Nacht nicht, während die anderen Sterne um ihn zu kreisen scheinen.
Dann kam es ihm.
Je nachdem, zu welcher Uhrzeit Vlad seine Opfer abgelegt hatte, würden die Sterne anders ausgesehen haben. Worauf immer sie schauen sollten, es könnte seine Position geändert haben, es könnte sogar von Ost nach West gewandert sein.
Markham machte seine Taschenlampe an und holte die Akte von Rodriguez und Guerrera aus seinem Matchbeutel. Er blätterte zu der Kopie des ursprünglichen Polizeiberichts.
Der Streifenbeamte , las er, entdeckte sie gegen 1.50 Uhr außerhalb des Friedhofs. Er war zum Schauplatz gerufen worden, weil sich angeblich eine »Bande Jugendlicher« nach Schließung der Anlage dort herumgetrieben hatte.
Das hatte dazu beigetragen, dass man zunächst den M S -13-Aspekt verfolgt hatte. Doch Markham fragte sich jetzt, ob es überhaupt stimmte, ob nicht vielleicht der Täter selbst der Polizei den Hinweis geliefert hatte, um sie auf eine falsche Fährte zu locken.
Markham überflog den Polizeibericht noch einmal. Er
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