Opfermal
fünfundzwanzig Metern Entfernung mit einem Schuss von der Seite erlegt hatte. Das war fast zehn Jahre her, aber Gurganus wusste, sein nächster und größter Hirsch war nahe; wenn er Glück hatte, brachte er ihn schon in der kommenden Saison zur Strecke.
Der Jäger stieg aus seinem Pick-up, setzte sein Nachtsichtgerät auf und ging in den Wald. Er benutzte das Gerät schon seit Jahren und hätte sich vor zwei Jahren zu Weihnachten fast in die Hosen gemacht vor Freude, als ihm seine Frau den neumodischen GP S -Rechner geschenkt hatte. War nicht eben ein billiges Geschenk gewesen. Es hatte seine Frau über vierhundert Dollar gekostet und ihn fast eine Woche pausenloses Vögeln. Aber Gurganus hatte den richtigen Dreh bei dem GP S -Rechner erst im folgenden Sommer herausbekommen, als er anfing, die Aktivitäten der Hirsche zu dokumentieren und sie auf dem Computer seines Sohns auszuwerten. Es hatte sich in der vergangenen Saison in hohem Maße bezahlt gemacht, auch wenn es nicht für einen neuen Rekord reichte.
Heute Abend hatte er seinen GP S -Rechner jedoch nicht dabei. Nein, in dieser ersten Nacht des Auskundschaftens war der Jäger nur mit seinem Nachtsichtgerät und einer 45er Sig Sauer unterwegs. Man konnte nachts allein im Wald nicht vorsichtig genug sein, und man wusste nie, wer oder was einem über den Weg lief, etwa ein entlaufener Bär aus dem westlichen Teil des Staats oder ein Rudel hungriger Kojoten.
Doch Otis Gurganus hatte nicht vor, sein Gewehr heute Nacht zu benutzen. Nein, heute Nacht ging es ausschließlich darum zu lauschen. In den Hochsitzen der letzten Saison zu sitzen und ein Gefühl für die Bewegung des Wilds zu bekommen. Er war jetzt seit mehr als drei Monaten nicht in seinen Wäldern gewesen, aber er würde bis September keinen Hirsch mit seinem Bogen töten. Wie alle anderen auch.
Denn Otis Gurganus hielt sich immer an die Regeln.
Der Hochsitz befand sich nur rund dreihundert Meter tief im Wald, am Rand einer großen Lichtung, die jetzt von Frühjahrsklee übersät war. Der Jäger lag gut in der Zeit – er war Punkt 3.30 Uhr eingetroffen und hatte sich fünf Minuten später bequem im Baum eingerichtet. Er hatte keine Hirsche weglaufen hören, während er durch den Wald gepirscht war, und auch keine durch sein Nachtsichtgerät gesehen. Aber das hieß nicht, dass keine da waren – gerade die großen Böcke gaben ihre Position erst auf, wenn sie sich sicher waren, dass man sie entdeckt hatte.
Gurganus saß noch nicht lange im Hochsitz, als er etwas Merkwürdiges in den Blick bekam. Das Nachtsichtgerät war auf rund hundert Meter scharf gestellt, aber was immer das Ding sein mochte, es war näher, gleich am gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Es sah wie ein seltsam geformter Baumstamm aus, aber aus irgendeinem Grund konnte Gurganus die Augen nicht von ihm wenden. Wäre es näher an der Saison gewesen und hätte er Mais in die Lichtung gestreut gehabt, um den Hirsch anzulocken, wie er es vor seinem Rekordschuss vor zehn Jahren getan hatte, nun, dann hätte er vielleicht bis nach Tagesanbruch gewartet, ehe er heruntergestiegen wäre, um sich die Sache anzusehen.
Aber heute, so früh in der Vorsaison, da der Wald so still und weit und breit nichts von einem Hirsch zu sehen war, gewann Gurganus’ Neugier die Oberhand. Flugs stieg er wieder nach unten und eilte über die Lichtung. Er war erst einige Meter weit gekommen, als er durch sein Nachtsichtgerät endlich erkannte, worauf er sich von oben keinen Reim machen konnte. Der Anblick ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.
Der sonderbar geformte Baum sah wie ein Mann aus – ein dürrer grüner Mann, der an einem Pfosten lehnte.
»He, Sie!«, rief Gurganus spontan aus. »Das ist Privatbesitz hier!«
Keine Reaktion – nur der Klang seiner eigenen Stimme, die im Wald verhallte –, und plötzlich spürte er, wie seine Wangen heiß wurden, wie Zorn in ihm aufwallte, und er griff nach seiner Sig Sauer und begann über die Lichtung zu rennen.
Doch als er näher kam und der dürre grüne Mann deutlicher zu sehen war, verwandelte sich sein Zorn rasch in Entsetzen. Der dürre grüne Mann lehnte nicht an dem Pfosten, o nein, der Pfosten lief mitten durch seinen Körper – durch seinen Arsch und bei der Schulter wieder heraus! Die Beine fehlten unterhalb der Knie, was ihn aussehen ließ, als würde er in den Bäumen schweben, und irgendwo in Gurganus’ Hinterkopf blitzte die Erinnerung an einen Zombiefilm auf, den er als
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