Opfermal
mitleiderregend, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, aber Cindy ignorierte sie, frottierte sich ab und zog ihren Bademantel an. Und nur um der Stimme zu beweisen, dass sie immer noch ganz gelassen war, patschte sie barfuß nach unten in die Küche und holte sich einen Müsliriegel und ein Glas Orangensaft.
Als sie in ihr Schlafzimmer zurückkehrte und endlich ihre E-Mails ansah, fand sie vier neue Nachrichten vor – zwei allgemeine Verlautbarungen der Universität, die sie sofort löschte, eine Gratulation zur Premiere von George Kiernan an Schauspieler und Technik und eine E-Mail von ihrem Vater mit dem simplen Titel Die Aufführung.
Aber es gab nichts von Edmund Lambert.
Nicht das Geringste.
Mit einem Gefühl der Mutlosigkeit löschte Cindy die E-Mail ihres Vaters, ohne sie zu lesen. Sie wusste ohnehin, was darin stand – irgendeine Version von: Ich hoffe, die Aufführung lief gut. Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe zu kommen. Hier geht es wie üblich ziemlich hektisch zu. Studiere schön fleißig, und wir sprechen uns bald, Dad.
Cindy vergaß nie die erste E-Mail von ihrem Vater, in der er schrieb, dass er ihr Bühnendebüt verpassen würde, und er hatte nachher jede einzelne Aufführung verpasst. Seine Abwesenheit sprach Bände. Vergiss nie, dass du an zweiter Stelle kommst, sagte der liebe Papa in Wirklichkeit. Immer an zweiter Stelle, nach der neuen Frau und dem neuen Kind.
Und natürlich wusste Cindy tief in ihrem Innern, dass die stets am Ende seiner Mails stehende Aufforderung, fleißig beim Studium zu sein, nur ein Schlag ins Gesicht war, falls sie den Sinn des vorhergehenden Satzes nicht verstanden hatte. Denn der liebe Papa sagte nicht nur: S org dafür, dass du einen Plan B hast, wenn es mit dieser albernen Schauspielerei nichts wird, mit der du deine Zeit vergeudest , sondern er sagte auch: Erwarte nicht, dass ich meine Zeit für deinen Quatsch vergeude.
Cindy saß lange da und starrte in ihre leere Eingangsbox, bis das mutlose Gefühl in ihrem Magen plötzlich in ihre Kehle hochstieg. Sie schluckte schwer und dachte einen Moment, sie müsste weinen.
Wer bringt dich so aus dem Häuschen?, fragte die Stimme in ihrem Kopf. Daddy oder Edmund Lambert. Zumindest hat sich der liebe Papa die Zeit genommen, eine E-Mail zu schreiben.
Spontan griff Cindy nach ihrer Büchertasche, holte das Kontaktblatt für Macbeth heraus und fuhr mit dem Finger über Edmund Lamberts E-Mail-Adresse. Es war keine private Telefonnummer für ihn angegeben, nur die Nummer der Kulissenwerkstatt im Harriot Theater.
»Du würdest ihn sowieso nicht anrufen«, sagte Cindy laut. »Nicht nach dieser Sache mit der Rose. Aber du kannst ihm immer eine E-Mail schreiben.«
Vielleicht sind sie ein und dasselbe, ließ die Stimme in ihrem Kopf nicht locker. Daddy und Lambert. Vielleicht fühlst du dich deshalb so zu Mr. Soldier Boy hingezogen – ein älterer Typ, Vaterprobleme. Was würde Freud wohl dazu sagen?
»Leck mich«, flüsterte Cindy und schaltete ihren Computer ab.
Sie schloss die Augen, holte tief Luft und versuchte, alle Gedanken an Edmund Lambert und ihren Vater auszublenden und sich auf den vor ihr liegenden Tag zu konzentrieren. Ihr Dialektkurs war wegen der Aufführung abgesagt worden, aber sie hatte immer noch ihren privaten Gesangsunterricht am Mittag. Wenn sie ihn sausen ließ und Kiernan es erfuhr, bekam sie mit Sicherheit den Arsch versohlt. Aber der Gesangsunterricht war im Musikgebäude, und das hieß, sie hatte eigentlich den ganzen Tag keinen Vorwand, beim Theater vorbeizuschauen. Keinen Vorwand, an der Kulissenwerkstatt vorbeizuspazieren und Edmund Lambert vielleicht über den Weg zu laufen. Sie konnte immer ein bisschen länger im Computerlabor herumhängen, einfach noch eine Weile vor ihrem Spind herumtrödeln, in der Hoffnung, dass …
Siehst du, ertönte die Stimme in ihrem Kopf. Du kannst einfach nicht anders, als an ihn zu denken. Du bist wirklich mitleiderregend.
»Okay«, sagte Cindy, »wenn ich zurückkomme und er hat nicht gemailt oder angerufen, schicke ich ihm eine Mail, bevor ich ins Fitnessstudio gehe. Danach kann er dann von mir aus bei seinen Scheißstudien bleiben.«
Mitleiderregend und zwanghaft, erwiderte die Stimme in ihrem Kopf.
Cindy legte das Kontaktblatt auf ihre Tastatur und achtete darauf, dass es mittig lag und die Ränder parallel zu den Rändern der Tastatur darunter verliefen.
Komischerweise fühlte sie sich besser.
Zwanghaft wiederholte die Stimme in
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