Opfermal
brüllenden Löwen, der über den Rand der Tafel selbst schaute. Die andere Tafel zeigte die Rückenansicht des Löwen. Er stand auf Hinterbeinen mit Adlerklauen und hatte ein Paar mächtige Schwingen auf dem Rücken.
»Was Sie hier sehen«, sagte Markham, »ist die künstlerische Darstellung der Vorder- und Rückseite der Höllentafel oder auch Lamaschtu-Tafel, wie manche Forscher sie nennen. Das Original befindet sich im Louvre, ist aus Bronze und geht auf die neuassyrische Zeit zwischen dem 10. und 7. Jahrhundert zurück. Man nimmt an, dass es sich um eine Art heilkräftiges Artefakt handelt, das über dem Bett hing, um Krankheiten abzuwehren. Die meisten Gelehrten stimmen überein, dass die löwenköpfige Gestalt mit den Eselsohren in der Mitte der Tafel die Dämonin Lamaschtu ist, von der man in alten Zeiten glaubte, dass sie Pest und Krankheit bringe. Die löwenköpfige Figur, die sowohl in der Vorder- als auch Rückansicht über den Rand der Tafel blickt, soll ihr Gatte sein, der Dämon Pazuzu, der angerufen wurde, um Lamaschtu zu vertreiben.
Bei seiner Entdeckung glaubte man zunächst jedoch, das Artefakt würde die babylonische Göttin Ereshkigal auf ihrer Reise durch die Unterwelt darstellen. Den löwenköpfigen Gott am oberen Rand hielt man demzufolge für den babylonischen Gott Nergal, den Herrn der Unterwelt und Ereshkigals Gemahl. Manche Gelehrten hängen immer noch dieser Idee an, und deshalb ist es Nergal, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Das nächste Dia, bitte.«
Die Zeichnung einer geflügelten, einer Sphinx ähnlichen Figur mit einem Menschenkopf mit langem Bart und der Bildunterschrift Ninive, 800 – 700 v. Chr.
»In manchen Erscheinungsformen wird Nergal anthropomorph dargestellt – mit einem Menschenkopf und dem Körper eines geflügelten Löwen. Das nächste Bild, bitte.«
Eine weitere Zeichnung, von einer Steintafel mit einer löwenköpfigen Gottheit zwischen zwei anderen Göttern – eine Art Prozession, bei der einer der menschenähnlicheren Götter einen langen Speer trägt. Markham spürte, wie sich die Agenten vorbeugten.
»In diesem Fall«, sagte Markham, »ist die Darstellung umgekehrt, mehr ägyptisch, und wir sehen Nergal mit dem Kopf eines Löwen und dem geflügelten Körper eines Menschen. Zu dem langen Speer werde ich mich später äußern. In seinen frühen Erscheinungsformen scheint Nergal nicht nur der Unterwelt vorzustehen, sondern auch eine Sonnengottheit gewesen zu sein, sowie der Gott des Krieges und der Pest. Er wurde auch mit der Zerstörung in Zusammenhang gebracht, die mit der Sommersonnenwende einherging, der toten Jahreszeit im mesopotamischen Pflanzzyklus, und wurde oft als der ›Wütende Prinz‹ bezeichnet. Das Hauptzentrum seiner Verehrung im antiken Babylonien war die Stadt Kutha, heute bekannt als die archäologische Stätte Tell Ibrahim im Irak.
Wie im alten Ägypten spielten Löwen und löwenköpfige Gottheiten eine herausragende Rolle in der antiken babylonischen Mythologie. Tatsächlich verfolgen viele Forscher Nergals Mutation durch nahezu alle nahöstlichen Religionen, einschließlich des Judentums, in dem er zuerst mit Satan gleichgesetzt wurde, um später zu einem von Satans Dämonen degradiert zu werden. Nergal wird sogar namentlich im zweiten Buch der Könige in der Bibel erwähnt.
Angesichts der Tatsache, dass der Gott Nergal im kollektiven Bewusstsein so gut wie unbekannt ist, waren Schaap und ich jedoch skeptisch, bis unser Experte uns überzeugte, dass nur Nergal die durchgängige Linie bot, nach der wir suchten. Viele Gelehrten behaupten, die alten Griechen hätten Nergal als ihren Kriegsgott Ares übernommen – besser bekannt als der römische Mars – und assoziierten ihn mit dem Roten Planeten, genau wie es die Assyrer taten, als sie Nergal in ihre Kultur assimilierten. Des Weiteren erzählte uns unser Mann von der NC State, dass der Kult in Kutha nach Ansicht der Forscher einem alljährlichen Verehrungszyklus von Nergal im Frühling folgte, um eine üppige Ernte sicherzustellen und den Gott milde zu stimmen, damit er sich im Sommer barmherzig zeigte.«
»Das Frühjahr«, sagte Connelly. »Die Rückkehr des Löwen an den Nachthimmel.«
»Richtig«, sagte Markham. »Und deshalb müssen auch wir auf das Sternbild zurückkommen.«
Der Schirm sprang zu einer komplexen astronomischen Karte.
»So«, sagte Markham. »Bei näherer Untersuchung des Sternbilds Löwe und seiner Bahn über den Himmel vom Winter über den
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