Opfermal
Gates gut in seinem Job, weil er nicht nur verstand, was es hieß, von seinem eigenen eines Tages nur einen Tick entfernt zu sein, sondern auch, weil er sich gedanklich in die Art von Zerbrechen hineinversetzen konnte, die den einen Tag zu einer Kette von Tagen machte. Er konnte denken wie die Mörder, die er jagte, aber er konnte auch die Wellen des Wassers fühlen und sehen, in denen sie schwammen. Es war das Letztere, was die Männer von den Jungs trennte. Dieser eine Tick, der ihn weiterbrachte, aber gleichzeitig bei Verstand hielt. Genauso war es bei Markham, wie Gates wusste. Sein Tick war Elmer Stokes.
Wie ein Mörder zu denken war schließlich eine Sache, aber sich zu fühlen wie er war eine andere.
Das Überlagerungsprinzip.
13.00 Uhr, dachte Gates nach einem Blick auf die Uhr über der Bürotür. Markham ist schon unterwegs. So viel zu tun, so wenig Zeit. Tick, tack, tick, tack.
Gates dachte an seinen Zug in Vietnam und ging in Gedanken die Namen und Gesichter derer durch, die es geschafft hatten, und derer, die es nicht geschafft hatten – derer, die noch lebten und derer, die inzwischen gestorben waren.
Und dann tat Alan Gates etwas, das er noch nie getan hatte.
Er kniete nieder und sprach ein Gebet für einen Mörder.
40
Cindy Smith war mehr als begeistert, weil sie noch diesen einen kleinen Moment länger vor ihrem Computer gewartet hatte, ehe sie zum Fitnessstudio aufbrach.
Direkt und ohne Umschweife, dachte sie beim Lesen. Aber zugleich geheimnisvoll. Genau wie der hübsche Soldat selbst.
Cindy lächelte und las die E-Mail noch einmal.
Hallo Cindy, Jennings braucht mich bei der Vorstellung heute Abend nicht, aber ich werde danach bei dir in der Garderobe vorbeischauen und dich zu der Party abholen. Es soll wohl doch sein. Herzlichst, dein Edmund Lambert.
»Es soll wohl doch sein«, sagte sich Cindy zum zwanzigsten Mal laut vor. »Aber was soll sein? Dass er zur Party geht? Oder dass er mit mir zur Party geht?«
Cindy seufzte und tadelte sich, weil sie nicht einmal für sich allein gelassen damit umgehen konnte. Sie fuhr ihren Computer herunter und steckte ihr Skript in die Büchertasche.
»Es wird spät werden, Mom«, rief sie beim Hinausgehen. »Denk dran, heute Abend ist die Ensembleparty.«
»Sei vorsichtig«, antwortete ihre Mutter aus der Küche. »Und keinen Alkohol, wenn du Auto fährst.«
»Ich weiß«, sagte Cindy. Sie wechselten ein Ich liebe dich, dann war sie weg.
»Es soll wohl sein«, sagte Cindy zu sich, als sie den Wagen anließ. »Jaa, Miester Lem-behrt. Jetzt habe ich Sie, wo ich Sie haben wollte.«
41
Als Markham über das Rollfeld ging, erfasste ihn eine kleine Panik beim Gedanken daran, wie dünn die Personaldecke des FBI in den kommenden Tag sein würde. Da waren jetzt die verwickelten Geschichten in Mitteleuropa und dem Nahen Osten, ganz zu schweigen von der Koordinierung aller militärischen Unterlagen. Er selbst hatte dem Namen Lyons bereits nachgespürt, doch ohne Ergebnis. Es überraschte ihn nicht. Das wäre zu einfach gewesen.
Markham erreichte die fahrbare Treppe und sah auf die Uhr – 14.07 Uhr. Er kam sieben Minuten zu spät zu seinem Flug. Zu spät, Punkt, dachte er. Ja, die Uhr tickte, keine Frage. Der Halbmond würde um den 3. Mai auftreten, was bedeutete, dass sich der Pfähler jetzt jeden Tag auf die Suche nach seinem nächsten Opfer machen würde, wenn er es nicht schon getan hatte. Tatsächlich würde die Mondsichel sogar zweimal im Mai am Himmel stehen, das zweite Mal am 31.
Oh, ja, sagte sich Markham. Der Wonnemonat Mai wird der bislang fleißigste Monat des Pfählers sein.
Aber würde er wieder in der West Hargett Street auf die Jagd gehen? Und wo würde er sein nächstes Opfer ausstellen, wenn ihn das FBI nicht rechtzeitig stoppte? Das war die Frage.
Die beste Antwort darauf hatte Dr. Underhill angeboten.
»Der Zusammenhang mit dem Militär klingt sehr einleuchtend«, hatte er am Ende der Videokonferenz gesagt. »Aber Sie sollten vielleicht nicht nur die Patientenunterlagen überprüfen, sondern sich zusätzlich spezielle Einheiten ansehen, die sich mit Löwen oder anderen Großkatzen identifizieren, vielleicht sogar mit geflügelten Geschöpfen wie Adlern oder Falken. Immerhin war Nergal nicht nur der Gott des Krieges – der oberste Soldat, wenn man so will –, sondern auch ein Löwe mit Flügeln.«
»Denken Sie, wir sollten den Kreis der Verdächtigen weiter einengen, indem wir uns auf Militärangehörige konzentrieren,
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