Opfermal
konnte im Augenblick ohnehin nur warten. Es gab niemanden zu befragen, bevor alle Daten da waren und er einen Ansatzpunkt hatte. Abgesehen davon brauchte er Schlaf, er musste wieder einen klaren Kopf bekommen und mit einer neuen Perspektive zurückkehren.
Ja, ertönte die Stimme in seinem Kopf. Ein netter kleiner Urlaub, um zuzusehen, wie der Mörder deiner Frau voll Chemie gepumpt wird. Wenn das kein Ferienspaß ist!
Das Flugzeug hielt wieder; Markham öffnete die Augen und holte einige Papiere aus seiner Aktentasche auf dem Boden. Er las darin.
Wie der Gott Nergal im Lauf der Jahrhunderte von einer Sonnengottheit zum Herrn der Unterwelt mutierte, lässt sich – genau wie seine Verbindung zum Planeten Mars – nur mit seiner Beziehung zu Ereshkigal, der babylonischen Göttin der Unterwelt erklären.
Die Liebesgeschichte zwischen Nergal und Ereshkigal ist insofern einzigartig, als sie in Irkalla, dem mesopotamischen Land der Toten stattfindet. Es gibt zwei verschiedene Versionen des Mythos: die erste, in Tell El-Amarna, Ägypten, entdeckte, stammt aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. und enthält rund neunzig Zeilen Text. Die zweite, wesentliche längere Version – ungefähr siebenhundertfünfzig Zeilen – stammt aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. und wurde bei Grabungen in der antiken assyrischen Stadt Sultantepe gefunden.
In der ersten Version steigt Nergal mit einer Armee von Dämonen in die Unterwelt hinab, vergewaltigt Ereshkigal, raubt ihren Thron und bleibt dort, um als König zu herrschen. In der späteren Version scheint Nergal zwei Reisen in die Unterwelt zu machen und statt einer Armee von Dämonen nimmt er einen speziellen Thron mit hinunter, der ihn davor beschützt, von Geistern in Besitz genommen zu werden. Ereshkigal verführt ihn dann, indem sie ihm beim Baden einen Blick auf ihren Körper gewährt, und die beiden stürzen sich in eine leidenschaftliche Liebesgeschichte. Ansonsten sind die Grundzüge der Geschichte dieselben.
In beiden Versionen veranstalten die himmlischen Götter ein Bankett, und da Ereshkigal die Königin der Unterwelt ist, diktieren die kosmischen Gesetze, dass sie nicht in den Himmel reisen darf, um daran teilzunehmen. Sie schickt einen Boten, der ihre Portion abholen soll, und Nergal, der Gott des Kriegs und der Pest benimmt sich rüde ihm gegenüber. Die anderen Götter finden, dass Nergal von Ereshkigal für die Kränkung bestraft werden muss. Nergal steigt in die Unterwelt hinab, überwältigt Ereshkigal, und die beiden verlieben sich. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Versionen besteht also darin, dass Nergal in der ersten durch Gewalt an den Thron kommt, während der Konflikt in der zweiten zu einer Liebesgeschichte führt.
Ein wesentlicher Teil des Mythos von Nergal und Ereshkigal fehlt sowohl in der Version von Tell El-Amarna als auch in der aus Sultantepe. Wie erwähnt dienen sie uns jedoch nicht nur als mythologische Erklärung, wie der Gott Nergal von einer Sonnengottheit zum Herrn der Unterwelt werden konnte, sondern sie stellen auch ein kulturelles Dokument über Ansichten zur menschlichen Sexualität sowie der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Neubabylonischen und Altassyrischen dar.
Untersuchen wir nun …
Das Flugzeug begann zu beschleunigen, und bis es abhob, waren Markhams Augen bereits schwer geworden, und das Bedürfnis nach Schlaf überwältigte ihn, noch während die Maschine immer höher in den Himmel stieg.
Die Gedanken, die Bilder, die vor seinen Augen flackerten, waren Bilder des löwenköpfigen Gottes Nergal – aber der Löwengott ist auch Elmer Stokes, samt Bürstenschnitt und schmutzigem weißen T-Shirt, wie er Michelle über den Parkplatz des Mystic Aquariums jagt.
Markham rennt ihm in der Dunkelheit hinterher, um ein Labyrinth an Ecken und durch die Lichtkegel von Straßenlaternen. Dann blitzt weit voraus eine riesige Badewanne auf, und der Löwengott und Michelle verschwinden.
Jetzt ist da nur noch der Parkplatz, und die Silhouetten Tausender gepfählter Körper erstrecken sich bis zu einem feuerroten Horizont. Er kann Michelle irgendwo hinter sich reden hören – »Möchten Sie etwas zu trinken, Madam?« –, aber er sagt zu ihr, sie soll ohne ihn weitergehen.
Er möchte nicht weggehen – nicht heute, da er so nahe dran ist – und lässt sich von den Bildern und dem leisen Summen der Flugzeugmotoren, den babylonischen Geistern zum Tempel von Kutha tragen. Er kann ihn in der Ferne sehen, nein, hinter ihm –
Weitere Kostenlose Bücher