Opfermal
wo ist er?
Er setzt sich auf den Asphalt, den Rücken an etwas Hartem – Michelles Wagen? Er wendet den Kopf, um nachzusehen, und stellt fest, dass er sich allein auf einem obsidiangrauen Ozean befindet, unter einem Gewitterhimmel. Er sucht nach der Küste, findet sie aber nicht.
Nein, jetzt ist da nur noch der Pfähler – er sitzt vor ihm in der Ferne im Schneidersitz auf dem Wasser und bewegt sich schnell von ihm fort, lautlos, ohne eine Spur von Kielwasser zu hinterlassen.
Er fühlt, wie er sinkt, aber er wehrt sich nicht. Der Himmel und das Meer sind jetzt eins und sinken schwer mit ihm, während der Schlaf sich auf ihn senkt – während sich die Flügel des Pfählers in seinem Rücken entfalten und ihn hoch in die Luft tragen … höher und höher, kleiner und kleiner, bis sie beide wie Rauch in der nahtlosen Schwärze verschwinden.
Teil 3
Durchschneiden
42
Annie Lambert liebte ihren Sohn mehr als alles in der Welt, aber manchmal konnte selbst sie nicht umhin, ihn in die Brustwarzen zu kneifen und sie zu drehen, bis er schrie – wenn er sich wie ein Trottel benahm, natürlich, aber vor allem, wenn er sich »Eddie« nannte.
Dahinter steckte sein Großvater; er war sogar so weit gegangen, ihm beizubringen, wie man E-D-D-I-E in Großbuchstaben und mit Bindestrichen in den Sand schreibt, als der Junge fünf gewesen war. Aber ihr Sohn hieß Edmund – Edmund, Edmund, Edmund!
Und abgesehen davon wusste es Edmund auch besser. Er konnte seinen Namen richtig schreiben, seit er drei war, und Annie schwor, sie würde dem kleinen Edmund die Brustwarzen verdrehen, bis er lernte, ihr und nur ihr zu gehorchen.
Sicher, Annie Lambert hatte ihren Sohn hauptsächlich als Seitenhieb für den Alten auf den Namen Edmund getauft. Ein heimlicher Witz, eigentlich nur für sie selbst bestimmt, und nicht in tausend Jahren hätte sie gedacht, ihr Vater würde herausfinden, dass Edmund eine Figur bei Shakespeare war – und ein Bastard dazu. Aber Claude Lambert hatte es herausgefunden. Wie? Nun, Annie brachte nie den Mut auf, ihn zu fragen.
Wie bei allem, wurde Claude Lambert jedoch nicht wütend oder benahm sich seiner Tochter gegenüber irgendwie anders, als er es sein ganzes Leben lang getan hatte. Ruhig, kalt, desinteressiert. Nein, der alte Mann zahlte es ihr heim, wie er es immer getan hatte. Durch andere Leute.
Ja, ihrem Sohn beizubringen, seinen Namen E-D-D-I-E zu schreiben, war normal für den alten Claude Lambert. Genau wie Keksbrösel auf dem Wohnzimmersofa, die vergossene Parfümflasche ihrer Mutter, die Blaubeerflecken auf ihrem Kissenbezug von einem gestohlenen Thanksgiving-Kuchen.
Als Annie Lambert etwa sechs, sieben Jahre alt war, glaubte sie, ein Geist sei plötzlich bei ihnen eingezogen, und sie schwor Stein und Bein, dass nicht sie den Lippenstift genommen habe. »Es war der Geist, Mama!«, schrie sie, wenn ihre Mutter ihr den nackten Hintern versohlte. Und dann, als sie ein wenig älter war, dachte sie, es sei ihr Bruder James, der sie hereinlegte, und manchmal versteckte sie sich hinter den Möbeln, um ihn dabei zu erwischen, wie er den Henkel einer Porzellantasse abbrach oder ein Schmuckstück ihrer Mutter stahl.
Sie erwischte ihn nie – sie erwischte überhaupt nie jemanden –, und oft dachte sie, sie würde verrückt werden in diesem alten Haus – als wären alle Räume schief und als sei ihr Hinterkopf dabei aufzuplatzen. Manchmal hörte sie einen hohen, sirrenden Ton und schlug mit dem Kopf gegen die Wand, damit es aufhörte. Und ein paar Mal wurde sie so wütend, dass sie das offene Rasiermesser ihres Vaters nahm und sich das Wort NEIN in den Arm ritzte. Danach beruhigte sich dann alles für ein paar Monate. Keine kleinen Missgeschicke im Haushalt der Lamberts, für die man ihr die Schuld gab. Aber dann passierte irgendetwas, und alles begann von vorn, bis sich Annie schlimm genug verletzte, damit es aufhörte.
Eines Tages dann, als sie etwa zwölf war, hörte alles auf – die bösen Dinge, die Vorwürfe, die Schläge, die Selbstverstümmelungen. Und erst Jahre später – kurz bevor Edmund zur Welt kam –, als sie sah, wie ihr Vater ihrem Bruder zunickte, als der Schuldspruch im Prozess verlesen wurde, machte etwas Klick in ihrem Kopf. Sie konnte es niemandem erklären, nicht einmal sich selbst, aber sie wusste nach all diesen Jahren tief in ihrem Innern, dass ihr Vater die ganze Zeit hinter dem falschen Spiel mit ihr gesteckt hatte.
Annie Lambert verstand nie, warum ihr
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