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Opfermal

Opfermal

Titel: Opfermal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Funaro
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Vater sie nicht liebte oder warum er sie nicht wenigstens ein bisschen mochte. Aber letzten Endes musste sie zugeben, dass sie ihn auch nicht sehr mochte. Claude Lambert war älter als die meisten Väter in Wilson, ein Witwer von vierzig, ohne Kinder, als er Annies Mutter auf der Bowlingbahn kennenlernte. Sie war erst dreiundzwanzig, und Annie schätzte – als sie alt genug für solche Dinge war –, dass ihr Vater und ihre Mutter etwa drei Jahre lang versucht haben mussten, Kinder zu bekommen, bevor Annie geboren wurde. Ihre Mutter erzählte Anni, als sie neun Jahre alt war, rundheraus, dass sich ihr Vater einen Sohn gewünscht hatte. Zum Glück, sagte sie, ging es bei James wesentlich schneller, der ein Jahr nach Annie kam. »Und das war’s dann«, sagte ihre Mutter.
    All die Jahre war Claude Lambert nach außen hin nie gemein zu seiner Tochter. Im Gegenteil, er sprach kaum je mit ihr. Und er legte gewiss nie Hand an sie – außer manchmal, wenn er zu lange im Keller gewesen war. Bei diesen seltenen Gelegenheiten kam er spätnachts in ihr Zimmer, machte das Licht an und befahl ihr ruhig, sich aufzusetzen. Dann nahm er ihr Gesicht in seine großen, rauen Hände, drückte ihre Wangen zusammen und steckte ihr den Finger in den Mund um ihre Zähne zu befühlen, als prüfte er ein Pferd. Seine Augen traten immer hervor und sahen rot aus, und sein Atem roch immer nach Lakritze, aber seine Finger schmeckten immer nach Metall. Er tastete einige Sekunden lang in ihrem Mund herum, dann küsste er sie auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht.
    » Bonne nuit, ma cherie«, sagte er. Und das war’s dann.
    Doch nachdem Annies Mutter an Brustkrebs gestorben war, wurde der alte Claude Lambert sogar noch distanzierter. Manchmal blieb er bis nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Feld draußen, wo er einfach auf seinem Traktor saß und in den Himmel starrte. Meistens jedoch hielt er sich einfach unten im Keller auf, in seinem Arbeitsraum, wo er sich betrank oder diese dämlichen Experimente zusammenpanschte. Manchmal, hauptsächlich an Freitagabenden, gesellte sich sein alter Freund Eugene Ralston dort unten zu ihm.
    Claude Lambert und Eugene Ralston – oder »Rally«, wie er genannt wurde – kannten sich schon seit ihrer Kindheit und waren im Zweiten Weltkrieg gemeinsam die Strände der Normandie hinaufgestürmt. Rally hatte an jenem Tag Annies Vater das Leben gerettet, wie Claude Lambert beteuerte. Rally schwor, es sei genau andersherum gewesen, aber wenn James nach Einzelheiten fragte, machten sie dicht und sagten, manche Dinge lasse man lieber in der Vergangenheit ruhen.
    Annie hatte Eugene »Rally« Ralston ihr ganzes Leben lang gekannt, und manchmal erschien er ihr einfach wie ein Teil des alten Bauernhauses, wie die Spüle in der Küche oder, besser noch, die windschiefe vordere Veranda. Rally war Mechaniker, ein eingefleischter Junggeselle ohne eigene Kinder, und so lange Annie zurückdenken konnte, war er Freitagabend nach der Arbeit total verdreckt und nach Motoröl riechend aufgetaucht. Manchmal zwang Annies Mutter ihn, sich im Waschbecken im Vorraum zu säubern. Dort standen auch die Waschmaschine und der Trockner, und sie gab ihm ein paar Sachen von ihrem Mann und sagte, er werde keinen Fuß in ihre Küche setzen, ehe er sauber sei und seinen Overall in die Maschine geworfen habe.
    Eugene Ralston war ein kleiner, dicklicher Mann mit dichtem grauem Haar, das so straff an den Kopf geklatscht war, dass es Annie an die glänzende Marmoreingangshalle der Bibliothek erinnerte. Er kämmte es ständig, und er erzählte ständig Witze – aber langsam, und manchmal wiederholte er sich in einer Weise, dass der Witz am Ende nicht mehr lustig war. Und wenn er lachte, kam kein Laut aus seinem Mund außer einem abgehackten Pfeifen.
    Annie hasste es, wie Rally roch, aber wenn sie darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass sie ihn sehr viel lieber mochte als ihren Vater. Er fragte sie immer nach der Schule, und ob es irgendwelche Jungs gebe, denen man die Beine brechen müsse. Und als sie und James noch klein waren, brachte er ihnen oft Spielzeug-Rennautos mit, die er von einem seiner »Kontakte« im Autohaus hatte, wie er sagte. Annie interessierte sich nicht für die Autos, aber sie wusste es zu schätzen, dass Rally die »mehr nach Mädchen aussehenden« für sie reservierte.
    Rally brachte auch immer Blumen für Annies Mutter mit und manchmal ausgefallene Zuckerwürfel und Tüten voll Zeug, das er von einem

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