Opfermal
Manchmal kam Rally auf diese Ausflüge mit, aber meist waren es nur die beiden, Vater und Sohn.
Im Rückblick kam Annie zu dem Schluss, dass sie das mangelnde Interesse ihres Vaters schon frühzeitig akzeptiert haben musste, da sie ihre Mutter hatte – Väter lieben Söhne mehr, Mütter lieben Töchter mehr, alles galt auch andersherum, alles ganz einfach. Und obwohl sie tief in ihrem Innern dankbar war für das, was ihr Bruder Danny Gibbs angetan hatte, wusste sie auch, dass Claude Lambert die Zukunft seines Sohns nicht nur geopfert hatte, um die Familienehre wiederherzustellen, sondern auch, um etwas an ihr wiedergutzumachen.
Zumindest hoffte sie, dass es so war.
Und merkwürdigerweise nahm Annie den ganzen Danny-Gibbs-Zwischenfall mit wenig oder gar keiner Gefühlsregung hin. Sie schaute zu, wie sich alles vor ihren Augen entfaltete wie die Handlung einer dieser albernen Soaps, die ihre Mutter nachmittags immer angesehen hatte. Annies Mutter war begeistert von ihrer Mitwirkung im Theaterklub und sagte immer Dinge wie: »Du bist eine bessere Schauspielerin als diese Schlampen im Fernsehen. Weißt du noch, wie du den schwarzgebrannten Schnaps weggeschüttet und das Glas mit Wasser gefüllt hast? Für deine Schauspielerei hinterher hättest du den Oscar verdient gehabt.«
Natürlich hatte Annie die Wahrheit gesagt, als sie leugnete, den Schnaps ausgeschüttet zu haben, aber es war die Art und Weise, wie ihre Mutter ihr hinterher immer vergab – das etwas größere Kuchenstück zum Nachtisch, die Küsse und Umarmungen zur Schlafengehenszeit, die Spaziergänge am Teich zum Blumenpflücken, nur sie beide – die es wert machten, wegen des Geists oder James oder wer immer sie hereinlegte, Schläge einzustecken.
Und Annie war in der Lage, den ganzen Unsinn mit Kopf an die Wand schlagen, den selbst zugefügten Schnitten und dem sirrenden Ton in den Ohren in etwas Positives zu verwandeln; sie konnte die Gefühle, wenn sie ihre Unschuld beteuerte, kanalisieren und dazu einsetzen, eine Figur in einem Stück zu spielen. Sie wusste nicht, wie sie es machte. Es kam von allein, sagte sie zu ihrem Schauspiellehrer. Und was immer »es« war, es brachte ihr die Hauptrolle in Romeo und Julia ein, als sie in der neunten Klasse war, und dann die Rolle der Abigail in Hexenjagd in der zehnten. Ihre Schauspiellehrerin sagte, sie sei die beste Schauspielerin, die sie je erlebt habe, und als Annie es ihrer Mutter erzählte, antwortete die: »Na, das wundert mich nicht, du übst ja, seit du sechs warst!«
Ihr Vater und James kamen jedoch nie, um ihre Stücke anzusehen. Sie fanden den Theater-Klub blöd und hielten ihn für Zeitverschwendung. Aber ihre Mutter war immer da. Auch noch, als sie schon krank war. Meist brachte sie ihre Freundinnen aus dem Frauenverein mit, und die fünf waren immer die Ersten, die aufstanden, wenn sich Annie verbeugte. Das waren die glücklichsten Augenblicke in Annies Leben. Annie liebte Shakespeare am meisten, und nach dem Tod ihrer Mutter sah sie eine Aufführung von Macbeth an der Harriot University und las alle Stücke und übte die Rollen nach der Schule mit ihrer Schauspiellehrerin, in Vorbereitung auf die großen Vorsprechen, die sie bestimmt absolvieren würde, wenn sie später selbst auf die Harriot University ging.
O ja, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie aus diesem kleinen Scheißkaff in North Carolina herauskäme, um eine große Bühnenkarriere in New York zu starten. Und wäre Danny Gibbs nicht gewesen, wer weiß, was aus ihr geworden wäre.
Stattdessen war sie fünf Jahre und neun Monate später eine alleinerziehende Mutter, deren einzige Aufgabe darin bestand, sich um ihr Kind zu kümmern und ihrem Vater das Haus zu führen. Und Annie erledigte beides hervorragend. Sie bekam reichlich Geld von ihrem Vater und ging manchmal sogar freitagabends mit ihren Freundinnen von der Highschool in Raleigh aus. Die Lamberts waren zwar nie reich gewesen, aber sie hatten andererseits auch nie Geldsorgen gehabt. Claude Lamberts Tabakfarm lief gut, und er gab Annie mehr als genug Geld, damit sie anfangen konnte, Schulgeld für Edmunds Collegebesuch zu sparen. Der Alte sprach nach wie vor selten mit seiner Tochter, äußerte aber häufig, dass es seiner Meinung nach Unsinn sei, den kleinen Eddie aufs College zu schicken, da er doch alles, was er brauchte, hier auf der Tabakfarm hätte.
»Er heißt Edmund «, war alles, was Annie dann sagte und fuhr einfach fort, Geld zurückzulegen. Sie begann
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