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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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Aperitif zu trinken, deshalb holte sie zwei Martinigläser aus dem Schrank neben dem Herd.
    Als sie die Kühlschranktür öffnete, um den halbvollen Shaker herauszuholen, fiel ihr Blick auf die hübsche Schachtel mit den Godiva-Pralinen, ihre Lieblingssorte. Auf der Schachtel klebte eine kleine rote Schleife, aber keine Karte.
    Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
    Oh, Leon …
    Anna hatte im Bett gelesen, Bradlees unautorisierte Biografie von Yehudi Menuhin, aber sie war unruhig geworden und hatte das Buch weggelegt. Dann war sie aufgestanden und eine Weile auf und ab gegangen, bis sie vor ihrem Schrank angehalten hatte, um die Pistole ihres Vaters herauszuholen, die sie heimlich aus seinem Haus in Queens mitgenommen hatte.
    Zurück im Bett hatte sie sich wieder gegen ihr Kissen gelehnt, doch anstelle des Buchs war es jetzt die Pistole, die schwer in ihrem Schoß ruhte.
    Anna hatte die heutigen Tageszeitungen gelesen, jede einzelne. Quinn, Quinn, Quinn. Sein Foto, seine Worte, seine Lügen waren überall. Sie fingen wieder an, einen Helden aus ihm zu machen. Und sein Opfer wurde kaum erwähnt, wenn überhaupt … Nun, das war lange her.
    Für alle anderen zumindest. Nicht aber für Anna.
    Abwesend fing sie an, die Pistole zu streicheln, dann wurde ihr bewusst, was sie tat, und hörte auf. Laut der Küchenpsychologie fungierte eine Pistole als Penisersatz. Vielleicht war es so, aber es war der tödliche mechanische Aspekt der Pistole, der Anna faszinierte. Sie fing an, den Abzug immer und immer wieder zu drücken, sodass der Schlagbolzen immer wieder auf die leeren Kammern fiel, während der Zylinder sich drehte. Der Mechanismus hörte sich jedes Mal genau gleich an – ein gedämpftes, metallisches Klicken.
    Eine Pistole gehört wohl zu den wenigen Dinge im Leben, die genau so funktionieren, wie sie es sollen, jedes einzelne Mal, bis die Zeit selbst sie abnutzt.
    Die Pistole war ein so unpersönliches Instrument – schwer für ihre Größe, präzise in Design und Konstruktion, geölt, glatt, effizient und tödlich in ihrer Bestimmung. Sie unterschied nicht zwischen Schützen und Opfer, zwischen richtig und falsch, zwischen Recht und Unrecht. Sie erfüllte einfach nur ihren Zweck. Mechanisch, unwiderruflich, versprach sie eine Reise in die Ewigkeit, einfache Fahrt, keine Stornierung möglich.
    Die Ewigkeit war der Ort, wo Quinn hingehörte, und wenn nur aus dem Grund, dass Anna dort nicht war.
    Sie stieg wieder aus dem Bett, nahm die Schachtel mit den Kugeln aus dem oberen Schrankfach und lud sorgfältig die Pistole.
    Geladen fühlte sie sich besser an, noch schwerer und mächtiger.
    Es fühlte sich ernst an.
    Das kühle Gewicht in ihrer Hand war definitiv beruhigend. Sie beschloss, sie von nun an in ihrer Handtasche bei sich zu tragen, oder in ihrem Gürtel unter ihrer Bluse oder Regenjacke. Sie wusste, dass es illegal war, eine Waffe ohne Erlaubnis mit sich zu führen, aber so fühlte sie sich sicherer. Und es war nicht nur ein Gefühl. Anna war überzeugt davon, dass sie damit auch wirklich sicherer war .
    Zögernd legte sie die Pistole und die Schachtel mit den Patronen in die Schublade ihres Nachttischs. Dabei warf sie einen Blick auf ihren Radiowecker und sah, dass es fast schon Mitternacht war. Sie würde nicht viel Schlaf bekommen, bevor sie morgen Früh mit der U-Bahn in die Stadt fahren musste. Sie würde nicht gerade in Bestform während des Unterrichts sein.
    Doch das war ihr egal. Anna beschloss, zur üblichen Zeit aufzustehen, sich anzuziehen und in die Stadt zu gehen, aber sie würde Juilliard morgen schwänzen. Sie würde einen Spaziergang machen und den Park oder die Straßen der Stadt genießen. Wenn sie unterwegs war, trug sie jetzt normalerweise eine Sonnenbrille, damit sie die Leute nicht erkannten. Nicht, dass viele sie erkannten. Aber wenn sie es taten, wusste sie, was sie über sie dachten.
    Sie hatte ihre Entscheidung getroffen; morgen würde sie keine Musik machen, sondern spazieren gehen.
    Sie würde sich schon irgendwie beschäftigen.
    Sie schaltete ihre Leselampe aus, schüttelte ihr Kissen auf und rollte sich auf den Bauch.
    Wenn ich nur meine Gedanken abschalten könnte!
    Sie schloss die Augen im Dunkeln, nur um noch mehr Dunkelheit zu finden.
    Nach einer Weile wurde sie vom Schlaf übermannt, vor dem sie sich so fürchtete, und hörte dabei die Musik, die sie nicht machen würde.

40
    Hiram, Missouri, 1989.
    O Gott! Ich hab sie umgebracht! Ich hab beide umgebracht!
    Cara!
    O Gott,

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