Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
Vom Netzwerk:
befand sich auf der Second Avenue in der Nähe der Abzweigung zur Queensboro Bridge. Eine Klimaanlage, die höher war als breit, brummte leise in einem der Flügelfenster und übertönte jedes Geräusch, das von der Straße neun Stockwerke tiefer hätte hereindringen können. Dr. Janess wollte die klassische Analysesituation vermeiden, deshalb gab es keine Couch. Außer ihrem Schreibtischstuhl standen in ihrem Sprechzimmer nur zwei gemütliche Sessel, beide aus grünem Leder mit brauner Paspelierung.
    Dr. Janess saß in einem der Sessel, im anderen saß ihr neuer Patient, Arthur Harris. Sie versuchte immer noch, sich ein Bild von ihm zu machen, indem sie ihn genau beobachtete und auf Hinweise zwischen den Zeilen lauschte. Seinen Namen hatte sie schon einmal gehört, da war sie sich sicher. Er war gut gekleidet, ansonsten sah er aber ziemlich durchschnittlich aus. Sie würden einen guten Spion abgeben, Mr Harris. Er trug einen Bart, der dunkler war als seine Haare, und sie ging davon aus, dass er falsch war. Seine drahtumrandete Brille wirkte wie ein billiges Modell aus der Drogerie, und wenn die Gläser nicht aus Fensterglas waren, dann waren sie nur ganz schwach.
    Jeri Janess war eine attraktive Afroamerikanerin, die als eins von sechs Kindern in einem Problemdistrikt in Harlem bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen war. Sie hatte dem Geschwätz ihres Vaters zugehört, wenn er zu einem seiner seltenen Besuche kam. Sie hatte zugehört, wie ihre Brüder ihr Verhalten rechtfertigten, das dazu führte, dass zwei von ihnen erschossen wurden und einer nach einer Schlägerei für immer an den Rollstuhl gefesselt war. Sie hatte dem Gefasel ihres Onkels und der Widerlinge aus der Nachbarschaft zugehört, die seit ihrem dreizehnten Lebensjahr versucht hatten, ihr an die Wäsche zu gehen. Sie hatte zugesehen, wie ihre Mutter sich von ihrem Vater hatte einwickeln lassen. Sie hatte zugesehen, wie eine ihrer Schwestern mit sechzehn heiratete, drogenabhängig wurde und sich schließlich in der leerstehenden Nachbarwohnung aufhängte. Das alles hatte dazu geführt, dass Jeri lernen wollte, das Verhalten der Leute besser zu verstehen.
    Und sie hatte gelernt.
    Arthur Harris, so ein Blödsinn.
    Es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass neue Patienten sich zierten, ihre wahre Identität preiszugeben. Zumindest hatte Harris ihr nicht erzählt, er wäre hier, weil »ein Freund« ein Problem hatte. Dr. Janess beschloss, die Lüge für eine Weile so hinzunehmen. Früher oder später würde sie alles über Arthur Harris herausfinden, was sie wissen musste, was ihn quälte und warum, und vielleicht auch, wie sie ihm helfen konnte.
    »Wie würden Sie die Spannung und Rastlosigkeit beschreiben, von der sie gesprochen haben?«, fragte sie.
    »Es fühlt sich an, als ob unter meiner Haut etwas wäre, das sich ausdehnt und mich gleichzeitig so zusammenpresst und unter Druck setzt, dass ich befürchte zu explodieren.«
    »Wie ein Geheimnis, das hinauswill?«
    Er starrte sie an. »Das trifft es genau! Wie ein Geheimnis, das in mir brummt. Und wenn ich es gestehen würde, wäre der ganze Druck verschwunden. Die Spannung wäre weg. Nur dass ich das Geheimnis selbst nicht kenne!«
    Offensichtlich hast du dich mit Freud beschäftigt. »Vielleicht können wir es gemeinsam aufdecken. Wenn Sie mehr Vertrauen in sich selbst und in mich haben.«
    Er setzte eine schüchterne Miene auf und senkte seinen Blick. »Vielleicht werde ich dieses Vertrauen eines Tages haben, Dr. Janess.«
    »Wenn wir beide daran arbeiten, werden wir dorthin gelangen.«
    »Ich glaube Ihnen.«
    Und ich glaube dir nicht. Noch nicht. »Hat das Problem etwas mit Frauen zu tun, Arthur?«, fragte sie ihn mit plötzlicher Direktheit. Ein Überfall.
    Die Schüchternheit verschwand aus seinem Gesicht. »Wenn man ein Mann ist, hat alles mit Frauen zu tun. Also lautet die Antwort ja und nein.«
    »So geht es den meisten Männern mit Frauen«, sagte Dr. Janess und lächelte, um ihm zu zeigen, dass sie einen Witz machte und ihre Zeit um war.
    Erst einige Stunden später fiel ihr ein, wo sie seinen Namen schon einmal gehört haben könnte: vor vielen Jahren in einem Geschichtskurs am College oder in einer Dokumentation, die sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte.
    Sie setzte sich an den Computer und googelte »Arthur Harris«, um es zu überprüfen.
    Ihr Gedächtnis hatte sie nicht getäuscht. Arthur »Bomber« Harris, von seinen Landsleuten zuweilen auch »Butcher« genannt, war der

Weitere Kostenlose Bücher