Opferschrei
…
Er wusste, dass er schreien würde, wenn er nichts dagegen unternahn. Und wenn er schrie …
Mit zitternden Fingern tastete er in seiner Tasche nach der Plastiktüte, in der ein zusammengefaltetes Tuch steckte.
Anfangs freute sich Anna Caruso darüber, ihren langgehegten Traum zu leben und über den Juilliard’s-Lincoln-Center-Campus zu schlendern, vorbei an der Bibliothek und der Alice Tully Hall, in der sie – da war sie sich sicher – eines Tages Konzerte geben oder zumindest im Juilliard-Orchester oder mit den Symphonikern spielen würde. Es konnte wahr werden. Das Studentenwohnheim ragte hoch über dem Campus auf, aber Annas Teilstipendium beinhaltete keine Unterkunft. Sie fuhr jeden Tag mit der U-Bahn zur Juilliard. Meist trug sie ihre Bratsche in ihrem abgewetzten schwarzen Kasten mit sich, sodass sie sowohl zu Hause als auch in einem der vielen Proberäume der Schule üben konnte.
Ungefähr sechs Monate nach der Vergewaltigung hatte sie angefangen, sich ernsthaft mit der Bratsche zu beschäftigen. Das Instrument passte zu ihr. Es war ein wenig größer als eine Geige, eine Quint tiefer gestimmt und hatte einen volleren, melancholischeren Klang. Auf ihr zu spielen munterte sie nicht auf, sondern linderte ihren Schmerz.
Ihre Euphorie darüber, an der Juilliard zu studieren, hielt nur wenige Tage an. Anna war bald schon enttäuscht darüber, wie die Dinge liefen, über ihren Fortschritt im Unterricht, mit der Beziehung zu ihren Lehrern, aber am meisten war sie enttäuscht von sich selbst. Man sagte ihr, das sei normal. Plötzlich war sie eine von vielen, die als Musiker entweder gleich gut oder talentierter waren als sie. Es war nur natürlich, dass sie das zunächst überforderte. Und dann war da noch Quinn, der sich in ihre Gedanken und ihre Musik geschlichen hatte. Sie hasste ihn.
Sobald sie die Wohnung betreten hatte und ihre Mutter sah, wusste sie, dass etwas Schlimmes passiert war. Linda Caruso saß zusammengesunken auf einem Stuhl neben dem Telefon und hatte offensichtlich geweint. Ihre Augen waren rot und mit ihrer klauenhaften rechten Hand mit den überlangen roten Nägeln hielt sie ein durchweichtes Taschentuch umklammert.
»Mom?« Anna ging zu ihr, und ihre Mutter fing sofort an zu schluchzen.
Als sie sich wieder gefasst hatte, schaute sie Anna aus schmerzerfüllten Augen an. »Dein Vater ist vor ein paar Stunden gestorben. Ein Herzinfarkt.«
Die Nachricht traf Anna wie ein Schlag in die Magengrube, und ihr Körper nahm dieselbe gekrümmte Haltung ein wie der ihrer Mutter. Gleichzeitig fielen ihr all die Dinge ein, die ihre Mutter über ihren Vater gesagt hatte, die alten Streitereien, und sie fragte sich, warum ihre Mutter so aufgelöst war. Sie taumelte rückwärts und setzte sich aufs Sofa.
»Aber sein Herz war doch nicht krank!«
»Doch«, antwortete ihre Mutter. »Wir haben es nur nicht gewusst. Laut Melba hat er es selbst nicht gewusst.«
Melba war Annas Cousine, ein albernes Plappermaul, das Anna nicht ausstehen konnte. »War es … ich meine, war er im Krankenhaus?«
»Nein, es ist ganz plötzlich passiert. Melba sagt, er hat nicht gelitten. Wenigstens das.« Ihre Mutter presste das durchnässte Taschentuch gegen ihre Augen, als ob sie sich selbst verletzen wollte, und fing wieder an zu weinen. Ihre lauten, bebenden Schluchzer füllten die Wohnung, veränderten sie. Es war, als ob es die Wände wären, die schluchzten.
»Himmel Herrgott!«, sagte Anna.
»Du sollst nicht fluchen, Anna. In einer Situation wie dieser …«
»Schon gut«, sagte Anna abwesend. »Wird es eine Trauerfeier geben?«
»Natürlich. Er wird auf einem Friedhof in der Nähe seines Wohnorts beigesetzt. Melba wusste nicht genau, wann und wo die Beerdigung stattfinden wird.«
Annas Vater, Raoul, hatte ihre Mutter nur wenige Monate nach der Vergewaltigung verlassen, und in gewisser Weise gab sich Anna die Schuld an der Scheidung ihrer Eltern. Ihr Vater war in ein Haus am Rand von Queens gezogen, in der Nähe der Autowerkstatt, für die er die Buchhaltung machte. Anna hatte gehört, dass die Werkstatt ein Umschlagplatz für gestohlene Autos sei, wo sie auseinandergenommen und in Einzelteile zerlegt verkauft wurden, aber sie hatte es nie geglaubt.
Sie hatte ihren Vater immer seltener in seinem traurigen und einsamen Zuhause besucht. Stattdessen waren sie zusammen frühstücken oder Mittag essen gegangen und hatten um Worte gerungen, doch Anna hatte nie wirklich aufgehört, ihn zu lieben. Sein Verlust
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