Opferschrei
musste Ron gewesen sein. Aber was ging hier vor sich? Litt er unter einer Art von geistigen Aussetzern? Seit er die neue Position innehatte, stand er ziemlich unter Druck. Marcy wusste, dass Menschen nicht immer logisch handelten. Manchmal taten sie tatsächlich unerklärliche Dinge und leugneten sie dann manchmal selbst vor sich selber – wie ihre ehemalige Kollegin, die Leute irgendwohin geschickt hatte, wo es angeblich günstig Schmuck oder Kleider zu kaufen gab. Nur dass die Läden, von denen sie erzählte, überhaupt nicht existierten – außer in ihrem Kopf. Rons kleiner Spleen war lange nicht so bedenklich im Vergleich dazu.
Wenn er also eine Art geistige Störung hatte und ihr Geschenke hinterließ, an die er sich später nicht mehr erinnerte, was schadete es? Vielleicht ging es wieder vorüber. Warum sollte sie also …
Marcy hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete und schloss. Ron. Er war zu Hause!
Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie sich entschieden hatte, die Pralinen nicht zu erwähnen. Immerhin hatte es nicht sonderlich viel gebracht, ihm die Jacke zu zeigen.
Sie schob die Schachtel unter ihre Slips und machte die Schublade zu.
Gerade noch rechtzeitig. Sein Schatten glitt über den Teppich, als er auf die Schlafzimmertür zukam.
»Da bist du«, sagte er und lächelte, als er sah, dass sie nackt war und sich gerade umzog. »Ich hab dir was gekauft.«
Er warf ihr etwas Glitzerndes zu und sie fing es auf. Es wiegt fast nichts. Ein dünnes Armkettchen aus Gold mit einem winzigen Diamanten auf einer glatten Fläche.
»Denk bloß nicht, sie wäre echt. Ein Typ auf der Straße hat sie verkauft, und ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Es ist schön.« Sie zog es über ihr Handgelenk, dann drehte sie ihren Arm vor sich hin und her, als ob sie beim Home-Shopping-Sender wäre. Mit Kleidern, versteht sich.
Er beobachtete sie und genoss sichtlich ihre Freude. »Es ist eine ziemlich gute Fälschung. Entweder das oder es war ein absolutes Schnäppchen.«
Marcy ging zu ihm und küsste ihn auf den Mund. Nach ein paar Sekunden fühlte sie, wie er ihren Kuss erwiderte. Seine Arme glitten um sie und schlossen sich hinter ihrem nackten Rücken. Er liebte sie wirklich. Vielleicht hatte er also tatsächlich den merkwürdigen Zwang, ihr Geschenke zu machen, und manchmal eben anonym.
Damit konnte sie leben.
15
Quinn aß den Rest seiner Spaghetti und benutzte ein halbes Brötchen, um sie Soße auf seinem Teller aufzuwischen. Er war im Esszimmer seiner Schwester Michelle. Sie hatte eine – nach New Yorker Standards – geräumige Wohnung in der West Side mit Blick auf den Fluss. Da sie noch nie zugeschaut hatte, wie eine Wasserleiche mit einem Haken wie ein Fisch ans Ufer gehievt wurde, dachte sie sicherlich an andere Dinge als Quinn, wenn sie auf den Fluss blickte.
Ungefähr einmal im Monat lud sie Quinn zum Essen ein und bereitete nach einem alten Familienrezept Spaghetti zu. Quinn konnte die Soße, die zu viel Knoblauch enthielt, nicht mehr sehen, doch es war ihm wichtig, immer seinen Teller leerzuessen. Seine Schwester war die Rettungsleine zu einer Welt, in der er sein Haupt noch erhoben tragen konnte, und er wollte sie nicht verletzen. Zudem war ihre Wohnung, die teuer und modern eingerichtet war, eine willkommene Abwechslung zu seiner gewohnten Umgebung, und Michelle servierte immer einen guten Rotwein zum Essen.
Quinn wusste, dass sie gerne kochte, auch wenn sie meistens im Restaurant aß. Michelle hatte bis vor sechs Jahren in einer lesbischen Beziehung mit einer Frau namens Monti in Vermont gelebt. Sie hatte Quinn davon erzählt, nachdem beide Eltern gestorben waren, nicht lange nach dem Tod ihres Vaters. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter wären geschockt gewesen, wenn sie die Wahrheit über sie gewusst hätten, zumindest glaubte das Michelle. Quinn, der als New Yorker Cop die ganze Bandbreite des menschlichen Spektrums gesehen hatte, dachte nicht groß darüber nach. Seiner Meinung nach ging ihn Michelles Liebesleben nichts an.
Als Marti nur wenige Monate später bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, kehrte Michelle nach New York zurück und machte sich ihre außerordentlichen Rechenkünste und ihren Harvard-Abschluss zunutze. Inzwischen war sie eng mit ihrer Arbeit und ihrem Computer verwachsen. Quinn wusste nichts über ihr Liebesleben und fragte auch nicht. Immerhin war er viel eher in der Position, gesteinigt zu werden, als den ersten Stein zu werfen.
Michelle schenkte ihnen
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