Opfertod
überleben könnte? So wie Christine Wagenbach. Ist es vollkommene Emotionslosigkeit oder schlichtweg abgrundtiefer Hass? Er ist intelligent genug, sich seinen Opfern zu nähern, ohne dass sie Verdacht schöpfen, schrieb sie weiter. Die Zeugin Christine Wagenbach bestätigt den Verdacht, dass der Täter männlich und demnach auch stark genug ist, die Opfer zu überwältigen.
Sie schloss eine Sekunde lang die Augen, um sich zu konzentrieren. Möglicherweise ist der Täter seinen Opfern nicht nur körperlich überlegen, sondern verfügt über ausgeprägte manipulative Züge, wodurch es ihm gelingt, seine Opfer um den Finger zu wickeln. Hinzu kommt, dass er sich ganz bewusst unauffällig verhält, wahrscheinlich sogar ein angepasstes Leben führt, auch wenn davon auszugehen ist, dass er sich nicht als treusorgender Familienvater maskiert. Da er sich an keinem der Opfer sexuell vergangen hat, wäre es denkbar, dass er entweder homosexuell oder aber asexuell ist. Er konzentriert sich einzig und allein auf sein Vorhaben und verspürt dabei weder Lust noch Zwang. Was ihn umso unberechenbarer macht. Doch welche wahnhafte Ideologie liegt dem zugrunde? Lena rieb sich die Schläfen, während sich ihre Gedanken regelrecht überschlugen. Anstoß für derartige Taten ist oftmals ein destabilisierendes Ereignis, wie etwa ein Unfall. Aber wie passt das mit der Wahl seiner Opfer zusammen, die unterschiedlicher nicht hätte sein können? Den Blick aus dem Fenster gerichtet, fuhr sich Lena mit dem Zeigefinger über die Unterlippe und analysierte immer wieder, was Wagenbach im Krankenhaus berichtet hatte. Sie setzte jedes Detail wie ein Puzzleteil zu einem Psychogramm zusammen und gab nicht eher auf, bis sie mit ihrer Arbeit zufrieden war.
15
Als Lena pünktlich um neun Uhr das Besprechungszimmer betrat, hatte sich dort das Team der Sonderkommission bereits versammelt. Volker Drescher hatte sich wegen einer dringenden Terminsache entschuldigen und Lena ausrichten lassen, sie möge bereits ohne ihn anfangen. »Guten Morgen zusammen«, sagte Lena. Sie hängte ihren anthrazitfarbenen Trenchcoat auf und trat in Jeans und dunklem Jackett, die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, vor die Kollegen. Sie war ein wenig nervös. Vor der Wand mit den Fotos der verstümmelten Frauen blieb sie stehen und wartete, bis sich die anwesenden Polizisten gesetzt hatten. »Ich werde Sie heute Morgen in die Psyche unseres Täters blicken lassen und Sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen. Wie Sie wissen, waren Frau Brandt und ich gestern im Krankenhaus bei Christine Wagenbach«, begann sie, als hier und da ein Flüstern laut wurde. Lena gewann zunehmend den Eindruck, dass an diesem Morgen irgendetwas nicht stimmte. Bemüht, sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, schlug sie ihr Notizbuch auf und fasste die wichtigsten Punkte aus Wagenbachs Schilderungen noch einmal zusammen. »Sowohl was das Verstümmeln als auch das Töten angeht, folgt jeder Triebtäter einem wiederkehrenden Verhaltensmuster, seinem ganz eigenen Ritual, das sich beispielsweise in immer gleichen Gewaltabfolgen ausdrückt, die zwanghaft eingehalten werden müssen – nur so kann er sich die erhoffte Befriedigung verschaffen«, fuhr sie anschließend fort. Als ihr Blick durch die unruhig gewordene Runde schweifte, beobachtete sie, wie Ben Vogt, der in der Konferenz am Vortag neben ihr gesessen hatte, Rebecca Brandt etwas zuflüsterte. Plötzlich blickte Brandt sie seltsam an und deutete mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger einen Schnitt durch die Kehle an, wie um Lena ein Zeichen zu geben. Lena hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, und fuhr unbeirrt fort, ihre Ansätze zum Täterprofil vorzutragen.
Plötzlich betrat Volker Drescher den Raum. Als Vogt ihn bemerkte, gab dieser ein lautes Räuspern von sich, wie um einen Einwand hervorzubringen.
»Einen Moment noch bitte, ich bin sofort fertig«, bat Lena. »Ich werde im Anschluss zu Wagenbach ins Krankenhaus fahren und hoffe, dass ich neben der Beschreibung des Täters auch noch den einen oder anderen Hinweis zu den Fotos der potentiellen nächsten Opfer aus ihr herauskriege.« Seufzend fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare. »Aber ehrlich gesagt mache ich mir da keine allzu großen Hoffnungen – die junge Frau wird noch viel zu traumatisiert sein, um zuverlässige Aussagen zu machen. Trotzdem ist sie im Moment unsere einzige Chance. Zudem behauptet sie, seine Stimme gehört zu haben. Sie hat
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