Opferzeit: Thriller (German Edition)
heraus, aber dann kam man dahinter, was es mit Jefferies’ zweitem Leben auf sich hatte, und das bedeutete keine Tourneen, keine Alben mehr. Durch sein zweites Leben erlangte er allgemeine Bekanntheit. Die Medien nannten ihn Santa Suit Kenny, denn in seinem zweiten Leben verkleidetete er sich als Weihnachtsmann, um seine Opfer von ihren Eltern wegzulocken. Jefferies’ drittes Leben ist das eines Häftlings. Manchmal singt oder summt er einen Song, den ich nicht kenne. Manchmal spielt er eine Gitarre, die nicht da ist, dann schlägt er in die Luft und singt von Folter und Schmerz; davon muss ihm die Kehle wehtun. Wenn ich Heavy-Metal-Musik höre, habe ich das Gefühl, die Menschheit habe ihren Höhepunkt schon hinter sich; als rasten wir wieder talwärts und entwickelten uns zurück.
Mein anderer Nachbar ist Roger Harwick – besser be kannt als Small Dick. Er erlangte mediale Berühmtheit, wurde dank seines Spitznamens zur Witzfigur. Ich bin also momentan von besonders prominenten und brutalen Verbrechern umgeben – das ist der sicherste Ort, an dem man sein kann. Darum bin ich hier. Weit weg von den normalen Häftlingen, wo mir keiner der tausend Insassen das Genick bricht, obwohl sie dazu in der Lage wären. Mein ganzer Zellenblock ist voll von Typen wie Jefferies und Harwick. Den Vormittag müssen wir in der Zelle verbringen, aber gegen zwölf dürfen wir in den Gemeinschaftsbereich, insgesamt dreißig Häftlinge, das ist eine überschaubare Zahl von Männern, die bewacht werden müssen. Einige von uns machen ihr eigenes Ding, einige versuchen, spitz gefeilte Zahnbürsten in ihre Mithäftlinge zu stecken, und einige versuchen, Körperteile in ihre Mithäftlinge zu stecken. Wir teilen uns eine Kochnische und ein Badezimmer, und wir können nach draußen in einen Käfig, der groß genug ist, um darin einen toten Hundewelpen herumzuschleudern, aber zu klein, um eine tote Nutte an ihrem Fußgelenk im Kreis zu wirbeln. Wenn »klein« in Maklersprache »gemütlich« ist, dann würde ein Makler den ganzen Zellenblock als »saugemütlich« bezeichnen.
In meiner Zelle kann ich nicht viel tun, trotzdem habe ich immer noch die Wahl. Ich kann auf meiner Bettkante sitzen und die Wand oder die Toilette anstarren, oder ich kann auf der Toilette hocken und das Bett anstarren. Es waren zwölf qualvolle Monate. Hin und wieder gibt es eine Befragung durch den Psychiater, aber nach dem Auftritt heute Morgen wird’s das wohl gewesen sein. Meine Mutter hat mich zweimal pro Woche besucht. Montags und donnerstags. In der Hauptsache, so scheint es, besteht der Knast aus Langeweile. Wäre ich bei den normalen Häftlingen, wäre mir zwar nicht so langweilig, aber dort wäre ich auch schon tot. Alles, was ich habe, sind ein paar Bücher in einer Ecke auf dem Boden und die Leute in den Zellen neben mir, die es keine drei Stunden aushalten, ohne laut zu masturbieren. Nebenan summt Santa Suit Kenny »Muff punching the Queen«. Das ist das Titellied vom ersten Album und der Song, mit dem die Band berühmt wurde. Dazu stampft er auf den Boden. Ich nehme einen der Liebesromane und schlage ihn auf, doch die Wörter verschwimmen zu einem einzigen Wort, und was da steht, interessiert mich nicht im Geringsten. Ich denke die ganze Zeit, dass ich selber ein Buch schreiben sollte. Den Leuten erklären, wie das wirklich mit der Liebe ist. Aber das ist eine dumme Idee. Niemand würde es lesen. Vielleicht würden die Leute es lesen, weil es der Schlächter von Christchurch geschrieben hat. Vielleicht sollte ich ein Buch darüber schreiben, wie ich getan hätte, was ich getan haben soll, wenn ich mich nur daran erinnern könnte. Wenn dem allerdings so wäre und ich mich tatsächlich an nichts erinnern könnte, wäre das bloß ein Buch mit leeren Seiten. Aber ich erinnere mich an jede Einzelheit, an jede Frau, an jedes Wort, das gesprochen wurde. Ich denke oft daran. Es sind die Erinnerungen, die einen davon abhalten, sich ein Laken um den Hals zu wickeln und zu strangulieren.
Ich werfe den Liebesroman in die Ecke zurück. Es ist unbegreiflich, dass ich immer noch hier bin. Ich kann das besser. Ich bin nicht so blöd. Es ist unbegreiflich, dass ich es nicht geschafft habe, mich herauszureden, als Schroder und seine Handlanger bei mir aufkreuzten, um mich mitzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, die nächsten zwanzig Jahre hier zu verbringen. Noch ein paar Wochen hier drin, und ich bin genau der Verrückte, den ich in den letzten Jahren gespielt
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