Opferzeit: Thriller (German Edition)
verbringen und abends zwei Stunden vor dem Spiegel, um das Ergebnis seiner Quälerei zu betrachten. Der andere Wärter, Glen, scheint Adam keine Sekunde von der Seite zu weichen. Ich wette, sie treffen sich ein-, zweimal die Woche, um sich die Seele aus dem Leib zu vögeln und über Schwule abzulästern. Adam steht jetzt vor mir, die Muskeln beulen seine Uniform aus; von diesen Muskeln würde sogar ein stumpfer Schraubenzieher abprallen. Einige der Jungs hier haben zur Religion gefunden. Sie sagen, dass Jesus für sie sorgt. Ich schaue mich um, aber Jesus besorgt mir keinen spitzen Schraubenzieher. Alles, was er mir gibt, sind dieselben Arschlöcher, die mich mit den Muskeln, mit denen er sie versorgt hat, fast täglich herumschubsen. An die Wände. Zu Boden. Gegen die Tür.
»Gehen wir«, sagt Adam.
»Wo bringt ihr mich hin?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. Er wirkt wütend. Vielleicht sind seine Hanteln kaputtgegangen. »Scheiße, ich fass es nicht«, sagt er, »aber du darfst nach Hause, Joe.«
Mein Herz macht ein paar Hüpfer, und plötzlich habe ich eine Art Tunnelblick, die Wände verschwinden, und ich sehe nur noch Adam, der mit mir redet. Aber das ist nicht alles, was ich sehe – ich sehe, wie ich durch meine Wohnungstür trete und mich auf mein Bett lege. Ich sehe Frauen, denen ich in Zukunft begegnen werde. Ich sehe tote Men schen – wie Adam, wie Barlow und wie Glen. Ich kriege keinen Ton heraus. Mir klappt die Kinnlade herunter, und ich reiße die Augen auf, und ich spüre, wie ich dümmlich grinse. Ich. Bringe. Keinen. Ton. Heraus.
»Die Anklage wurde fallen gelassen«, sagt Glen und verzieht das Gesicht, als würde er an einem vergammelten Stück Obst lutschen. Oder an einem schmackhaften Stück von Adam.
»Irgendeine blöde, beschissene Formsache«, fügt Adam hinzu.
Ich bringe immer noch nichts heraus. Alles, was ich kann, ist grinsen.
»Gehen wir«, sagt Adam und spuckt mich dabei fast an, und mir nichts, dir nichts ist mein Knastabenteuer zu Ende.
Kapitel 4
Die Tage werden jetzt kürzer. Und kälter. Fast täglich sagt der Wetterbericht für den nächsten Tag Schnee voraus, und jedes Mal liegt er daneben, und Schroder weiß nicht, ob er dem Wettermann oder Mutter Natur die Schuld dafür geben soll. Letztes Jahr hatte man das Gefühl, der Sommer würde nie enden, Ende Mai war es immer noch warm. Dieses Jahr war es ähnlich, bis vor ein paar Wochen. Anfang des Jahres dörrte eine Hitzewelle die Stadt aus und forderte Menschenleben. Angesichts der aktuellen Wetterlage kann man sich das kaum vorstellen. Das Gute an der Kälte ist, dass die ganzen Irren zu Hause bleiben, weil es draußen zu unangenehm ist, um dort Leute zu überfallen. Im Winter geht die Verbrechensrate stets zurück. Die Häuser der Menschen, die arbeiten, sind kalt wie ein Kühlschrank, sodass dort niemand einbrechen will. Der Winter ist für einen Cop also eine gute Jahreszeit. Nur dass Carl Schroder kein Cop mehr ist. Seit drei Wochen nicht mehr, seit er diese Frau getötet und man ihm seinen Dienstgrad und seine Pistole, seine Marke und damit die beschissenen Leistungen, wie zum Beispiel sein beschissenes Gehalt, genommen hat.
Jeden Tag, seit er seinen Job verloren hat, hat er sich wie ein Cop gefühlt. Es ist nervig. In den ersten zwei Wochen ist er jeden Tag aufgewacht und wollte seine Marke einstecken, doch stattdessen hat er die Jogginghose und eine Jacke angezogen und ist zu Hause geblieben, hat seiner Frau geholfen und sich mehr als sonst um seine Kinder gekümmert. Jeden Abend beim Schlafengehen sah er die Frau vor sich, die er erschossen hat. Er fand es schrecklich, dass er gezwungen war, es zu tun, aber er wusste, dass er beim nächsten Mal genauso handeln würde. In der dritten Woche fing er wieder an zu arbeiten. In seinem neuen Job muss er keine Leute erschießen.
Es ist jetzt seine zweite Woche in dem Job. Die Fahrt raus zum Knast ist grauenvoll. Als er heute Morgen aufwachte, regnete es, als er frühstückte, regnete es, und als er am Telefon den Auftrag bekam, hier rauszufahren, regnete es immer noch. Und auch wenn für morgen schönes Wetter vorhergesagt ist, wird es auch morgen bestimmt wieder regnen. Die Scheibenwischer sorgen für Durchblick, bevor durch den Regen wieder alles verschwimmt. Er kommt an Weiden vorbei, auf denen Kühe im Schlamm stehen, und die Schafe tragen durchnässte Wollpullis, und trotzdem sind Farmer dort draußen und sorgen dafür, dass sich der Kreislauf des Lebens
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