Opferzeit: Thriller (German Edition)
Die Handschellen nimmt er mir ab. »Vergiss nicht, du schuldest mir zweihundert Dollar«, sagt er. Dann wird die Tür hinter mir zugeschlagen. Im Innern gibt es kein Licht. Um die Bettkante zu erreichen, muss ich langsam gehen. Ich lege mich auf die Seite. Erneut meldet sich mein Magen zu Wort. In der Dunkelheit der Zelle könnte es sehr unangenehm werden, sollte er nicht aufhören zu knurren.
Zum ersten Mal, seit ich im Knast bin, fange ich an zu weinen. Ich werfe mich mit dem Gesicht auf das Kissen, und ich frage mich, ob ich besser dran wäre, wenn ich einfach mein Gesicht im Kissen vergraben und einschlafen würde in der Hoffnung, dass die Erstickungsfee kommt, um mich zu holen.
Ich frage mich, was Melissa wohl gerade macht, und mit wem, und ich frage mich – während das Druckgefühl in meinem Magen langsam stärker wird –, ob sie überhaupt noch an mich denkt.
Kapitel 42
Es ist kalt, aber trocken. Melissa ist erleichtert, dass das Wetter offensichtlich mitspielt. Es ist Sonntagmorgen. Da schlafen die Leute aus. Einige gehen in die Kirche. Einige haben einen Kater von gestern Nacht. Kinder krabbeln zu ihren Eltern ins Bett, sie hocken vor dem Fernsehapparat und spielen im Garten. Melissa kann sich noch an diese Zeit erinnern. Sonntagmorgens haben sie und ihre Schwester immer mit den Eltern im Bett gekuschelt. Ihre Schwester hieß Melissa. Von ihr hat sie den Namen. Sie selbst hieß Na talie. Hieß ist hier das entscheidende Wort. Melissa und Natalie schauten sich immer zusammen Zeichentrickfilme an und aßen Cornflakes dabei, und manchmal versuchten sie, für ihre Eltern Frühstück zu machen. Einmal steckten sie dabei den Toaster in Brand. Allerdings ging das mehr auf das Konto ihrer Schwester – sie besorgte das Toasten, während Natalie für die Cornflakes und den Oran gensaft verantwortlich war. Danach mussten sie ihren Eltern versprechen, dass sie nicht noch mal versuchen würden, für sie Frühstück zu machen, zumindest nicht in den nächsten paar Jahren, und an dieses Versprechen haben sie sich gehalten.
Ihre Schwester fehlt ihr. Sie hat sie immer Melly genannt – doch wenn Natalie sie ärgern wollte, nannte sie sie Stinkerchen. Was recht häufig vorkam. Melly war jünger als sie. Sie hatte blondes Haar und einen Pferdeschwanz. Große blaue Augen und ein bezauberndes Lächeln, das noch bezaubernder wurde, als sie ihre Reise ins Teenageralter antrat, die sie jedoch nie beenden sollte. Alle liebten sie. Eines Tages liebte sie ein Fremder. Er liebte sie und tötete sie, und dann steckte er sich den Lauf einer Pistole in den Mund und brachte sich um. Er war ein Cop. Sie hatten ihn nie zuvor gesehen. Sie hatte keine Ahnung, wo Mellys und sein Lebensweg sich ge kreuzt hatten. Aber es war geschehen. Einen kurzen schmerzlichen Nachmittag lang. In Ermangelung einer besseren Zusammenfassung: So was passiert eben.
Der Verlust machte ihr schwer zu schaffen. Letztlich war er auch für den Tod ihres Vaters verantwortlich. Das Leben ging weiter. Das Leben war merkwürdig. Ein Polizist hatte ihre Schwester getötet, und dennoch entwickelte sie eine Faszination für Polizisten. Keine Obsession – das kam erst später, zunächst war es nur eine Faszination. Ihr damaliger Psychiater drückte es auf eine Weise aus, die sie nicht verstand, weil sie zu jung dafür war. Sie begriff nicht, warum sie sich genau zu dem hingezogen fühlte, was ihr so viel Schmerz zugefügt hatte. Also hatte ihr Psychiater, ein gewisser Dr. Stanton, es ihr in einfacheren Worten erklärt – er sagte, sie habe ihre Faszination für die Polizei nicht deshalb entwickelt, weil es ein Cop war, der ihre Schwester umgebracht hatte, sondern weil die Polizei für Gerechtigkeit stehe. Das hatte sie verstanden. Schließlich faszinierte sie die Polizei als Institution und nicht irgendwelche Einzelpersonen, die junge Mädchen vergewaltigten und ermordeten.
Zwischen dem Verlust ihrer Schwester und dem Tag, an dem sie selbst einem sehr, sehr bösen Mann über den Weg lief, lagen nur wenige Jahre. Es kam ihr so vor, als lastete ein Fluch auf ihrer Familie. Diesmal war es ein Uniprofessor. Sie studierte damals Psychologie. Denn sie wollte herausfinden, was die Menschen antreibt. Sie wollte Kriminologin werden. Dann kreuzten das Böse und der Fluch ihren Weg, und sie teilte die erste Hälfte des Schicksals mit Melly. Und, da ist sie sich sicher, sie hätte auch die zweite Hälfte mit ihr geteilt, wenn Melly ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre. Aus dem
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