Opferzeit: Thriller (German Edition)
einer Möglichkeit, mit meinem Arm durch die Telefonleitung zu greifen und ihr meine Finger um den Hals zu legen.
»Joe? Bist du noch dran?«, fragt sie, und dann klopft sie den Hörer in ihre Hand – ich höre es zweimal knallen, dann ein drittes Mal, und schließlich hält sie ihn wieder an den Mund, während ich immer noch versuche, sie mit meiner Hand zu packen und zu würgen. »Joe?«
»Hast du sie gelesen?«, frage ich.
»Natürlich.«
»Aber du bist eine langsame Leserin.«
»Und?«
Ich wende mich der Betonwand zu und frage mich, wie tief ich meine Stirn darin vergraben kann. »Wann genau hat meine Freundin dir die Bücher für mich mitgegeben?«
»Wann?«, fragt sie, und dann verstummt sie, während sie überlegt, wann es war. Ich kann meine Mutter vor mir sehen, wie sie mit dem Telefon in der Küche steht, hinter ihr das Geschirr, auf der Arbeitsplatte der kalte Hackbraten, während sie mit den Fingern die Tage abzählt. »Also, letzten Monat war es nicht.«
»Dann diesen Monat.«
»Du liebe Güte, nein. Nein, das war, lass mich überlegen … das war vor Weihnachten, nein, nein, halt – danach. Ja. Ich glaube, es war danach. Wahrscheinlich vor vier Monaten, nehm ich an.«
Ich halte den Hörer fester umklammert. Die andere Hand balle ich zur Faust. »Vor vier Monaten?«
»Vielleicht auch fünf.«
Ich schließe die Augen und drücke meine Stirn gegen die Wand. Es handelt sich um übertünchten Betonstein, er ist kalt und glatt, und Blut lässt sich davon gut abwaschen.
»Vor fünf Monaten«, sage ich, und irgendwie bleibt meine Stimme dabei ruhig.
»Höchstens sechs«, sagt sie.
»Höchstens sechs«, sage ich. »Mom. Hör mir zu. Und zwar sehr gut. Warum zum Henker hast du mir die Bücher nicht sofort mitgebracht?«
»Joe! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Nach allem, was ich für dich getan habe? Nachdem ich dich großgezogen, mich um dich gekümmert habe, nachdem ich dich aus meiner Vagina gepresst habe!«, schreit sie.
Sechzehn Jahre später wurde ich in die meiner Tante gepresst. Ich finde, die beiden schulden mir verdammt noch mal etwas Rücksichtnahme.
»Sechs Monate!«, brülle ich, aber es geschieht nicht bewusst, sondern es passiert einfach, meine Hand fängt an, den Hörer gegen die Wand zu schlagen. »Sechs Monate!«, brülle ich in den Hörer, allerdings ist er jetzt nur noch geborstenes Plastik mit einem Bündel Drähte und ein paar Bauteilen darin. Ich knalle ihn erneut gegen die Wand. Jetzt sind da nur noch ein Besetztzeichen und beginnende Kopfschmerzen. Ich habe keine Gelegenheit, noch mal in den Hörer zu sprechen, denn ich werde überwältigt. Dann liege ich auf dem Boden, und man dreht mir die Arme auf den Rücken und brüllt mich an, ruhig zu bleiben. Erneut schreie ich sechs Monate , und dann drückt mir der Wärter sein Knie in den Rücken und versetzt mir einen überaus heftigen Schlag in die Nieren, so heftig, dass ich mich fast übergeben muss.
Er rollt mich auf den Rücken. Bei ihm ist ein zweiter Wärter.
»Gehen wir«, sage ich.
Sie zerren mich auf die Füße. Es ist Samstagabend. Zeit auszugehen. Aber man bringt mich nicht auf meine Zelle. Sondern woandershin, durch zwei weitere Doppeltüren, die irgendwo von einem Kontrollhäuschen aus summend geöffnet werden. Die Kameras unter der Decke beobachten uns. Hier bin ich noch nie gewesen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wohin es geht. Zu den Isolationszellen – und meine erster Gedanke ist, dass es dort bestimmt besser ist als da, wo ich bisher war. Mein zweiter Gedanke ist, dass sich die Sache recht gut entwickelt hat. Ich meine nicht den Mist, den meine Mutter verbockt hat, auch nicht den Mist, den ich verbockt habe, als ich das Telefon zertrümmert habe. Nein, hier bin ich sicher. Hier kann mich Caleb Cole nicht kriegen.
Die Zellen hier liegen weiter auseinander. Alle Türen sind verschlossen, und aus ihnen dringt nicht das geringste Geräusch. Es gibt auch keinen Gemeinschaftsbereich. Alles hier ist dunkler. Selbst der Betonstein scheint einen anderen Grauton zu haben. Die beiden Wärter marschieren mit mir zum Ende eines Gangs, wo wir warten, während sich eine Zellentür summend öffnet. Auf dem Weg dorthin sagt keiner einen Ton. Mit einem Teil meiner Gedanken bin ich immer noch bei dem Telefon und suche nach einer Möglichkeit, meine Mutter zu packen und zu würgen. Der zweite Wärter verschwindet.
»Schlaf’s aus«, sagt der erste Wärter und stößt mich in die Zelle.
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