Opferzeit: Thriller (German Edition)
jedoch nicht. Sie weiß nicht, wo sie suchen soll, aber ein kahlköpfiger Mann, dessen Arme und Hals mit Leberflecken übersät sind, kommt ihr zu Hilfe, und einige Hundert Dollar später hat sie, was sie will.
Ihre nächste Station ist die Stadt. Sie parkt vor dem Bürogebäude, auf demselben Parkplatz wie gestern Abend. Sie betritt das Gebäude und fährt mit dem Aufzug in den dritten Stock, denn sie ist zu faul, die Treppe zu nehmen. Ihre Beine werden es ihr danken, die Umwelt nicht. Das Büro ist genau so, wie sie es verlassen hat. Warum auch nicht? Die Abdeckplane dient immer noch als Vorhang, doch das Umgebungslicht reicht aus, um etwas zu erkennen. Das Gewehr ist noch genau dort, wo sie es verstaut haben. Sie holt es herunter und legt es auf das Brett, das sie gestern aufgebaut haben, dann tritt sie an das Fenster. Sie holt die Einkäufe vom Baumarkt hervor und überfliegt die Gebrauchsanweisung, dann richtet sie das Gerät aus dem Fenster auf die Stelle jenseits der Straße, wo Joe später stehen wird. Mithilfe eines Lasers misst das Gerät die Entfernung. Sie kann den roten Punkt des Laserpointers allerdings nicht sehen und weiß deshalb nicht, wo er hinzeigt. Eine Minute hantiert sie damit herum und will schon frustriert aufgeben, als sie den Punkt plötzlich am Gerichtsgebäude im Schatten der Hintertür entdeckt. Sie lässt ihn zu der Stelle wandern, wo Joe morgen stehen wird, und misst die Entfernung. Luftlinie sind es fast vierzig Meter.
Sie nimmt das Gerät und das Gewehr und geht damit zurück zum Fahrstuhl. Am Auto angekommen, verstaut sie das Gewehr im Kofferraum. In den nächsten paar Stunden wird der Verkehr nicht weiter zunehmen. Wie immer am Sonntagmorgen, egal wie spät es ist. Die Temperatu ren werden auch nicht weiter ansteigen. Höchstens um ein Grad, wenn überhaupt. Sie fährt mit eingeschalteter Heizung und eingeschaltetem Radio. Es läuft Bruce Springsteen. Er singt von einem Typen, der in den Fünfzigern mit seiner Freundin Amok läuft. Damals waren die Dinge noch einfacher.
Der Wagen lässt sich besser fahren, wenn man nicht im achten oder neunten Monat schwanger ist, trotzdem hat sie jetzt wieder den Anzug an. Sie biegt auf den Parkplatz eines Waffenladens und geht hinein. Der Mann, der sie bedient, ist in den Vierzigern, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und hat zusammengewachsene Augenbrauen. Er heißt Arthur. Er wirkt leicht panisch. Offensichtlich fürchtet er, dass sie im Laden gleich ein rothaariges Baby zur Welt bringen wird. Er scheint ein netter Bursche zu sein, dem das Leben noch nie übel mitgespielt hat. Sie sagt ihm, was sie braucht. Eine Schachtel Munition. Sowie einen Delaborierhammer zum Auseinandernehmen der Patronen, und eine Setzmatrize, um sie wieder zusammenzubauen. Sie erklärt ihm, sie brauche das für ihren Mann. Er nickt nachdenklich, wahrscheinlich glaubt er, dass ihr Mann sich lieber umbringt, als das zu sehen, was kurz davor ist, die Gebärmutter zu verlassen und auf den Boden zu klatschen. Der Verkäufer holt die Sachen für sie, und sie zahlt in bar.
»Richten Sie ihm aus«, sagt Arthur, »dass er gerne vorbeikommen kann, falls er noch Fragen hat. Wenn man mit dem Zeug herumpfuscht und statt des richtigen Werkzeugs irgendwelche Zangen benutzt, kann man sich die Finger wegsprengen.«
Sie bedankt sich bei ihm, steigt in den Wagen und fährt los.
Als sie den Wald erreicht, fährt sie die gleiche Strecke wie neulich und parkt an derselben Stelle, dann nimmt sie die Decke und das Gewehr, Dosen packt sie keine ein, denn die vom letzten Mal sind noch da – nicht dass sie sie bräuchte. Der Boden ist heute etwas trockener. Es ist vollkommen windstill. Morgen wird ähnliches Wetter sein, allerdings soll es später am Tag regnen. Zumindest behauptet das der Wetterbericht. Mithilfe des Laserpointers misst sie von einem Baum aus vierzig Meter ab und legt die Decke dorthin. Dann baut sie das Gewehr zusammen. Lädt das Magazin. Schiebt es ins Gewehr. Richtet die Waffe auf den Baum.
Sie sucht sich einen Punkt aus. Einen dicken Ast. Legt darauf an, atmet ruhiger und drückt ab. Der Knall wird durch ihren Ohrenschützer gedämpft. Der Ast an dem Baum zersplittert, als die Kugel einschlägt. Erneut zielt sie auf den Ast. Drückt ab. Die zweite Kugel schlägt zwei Zentimeter neben der ersten ein. Treffsicher genug. Weitaus treffsicherer, als sie Raphael gezeigt hat. Mit ein paar Hundert Schüssen könnte sie den Baum wahrscheinlich fällen.
Während sie
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