Opferzeit: Thriller (German Edition)
schießt, denkt sie daran, wie sich der Plan für sie beide geändert hat. Und zwar auf ziemlich gravierende Weise. Melissa wird nicht die Sammlerin sein, sondern Opfer Nummer zwei. Joe wird nicht eingesammelt werden, sondern Opfer Nummer eins sein. Das steht fest. Sie hatte nie vor, Joe in den Kopf zu schießen, sie will ihn nur verletzen. Verkleidet als Sanitäterin wird sie ihn auflesen und dann mithilfe des C4s der Polizei entkommen. Raphael dachte zunächst, dass sie Joe mitnehmen würden, um ihn zu foltern und zu töten. Aber das war nie der Plan. Ersteres schon, aber nicht Letzteres.
Sie schaut durch das Zielfernrohr auf das Einschussloch. Es liegt acht, vielleicht zehn Zentimeter unterhalb eines Astlochs. Erneut richtet sie das Fernrohr aus. Zielt. Drückt ab. Diesmal trifft die Kugel den Baum weiter unten. Sie legt das Gewehr hin und läuft zum Baum hinüber. Dort holt sie ein Maßband hervor und misst damit die Entfernung zwischen dem Astloch und der letzten Einschussstelle. Achtund zwanzig Zentimeter. Fast perfekt. Sie geht zum Gewehr zurück. Richtet erneut das Zielfernrohr aus, diesmal leicht zur Seite. Zielt auf das Astloch. Stabilisiert das Gewehr. Drückt ab.
Diesmal trifft die Kugel den Baum achtundzwanzig Zentimeter unterhalb des Astlochs und ein paar Zentimeter weiter links. Sie verbraucht fast alle Kugeln.
Es ist perfekt. Ein kalkuliertes Risiko, sicher, aber perfekt.
Außerdem ist es nicht ihr Leben, das hier auf dem Spiel steht, sondern Joes. Darum ist es ein akzeptables Risiko.
Kapitel 43
Schroder hasst es, sonntags zu arbeiten. Er hat das Gefühl, dass er mehr zu tun hat als während seiner Zeit als Cop. Seine Frau sieht es ganz bestimmt so. Sie hat ihn deswegen heute Morgen beim Frühstück angepampt. Die Entschuldigung, dass das nun mal sein Job sei, war heute auch nicht besser als in den letzten zwanzig Jahren. Die Kinder waren nervig. Letzte Nacht hat das Baby sie ordentlich auf Trab gehalten. Es schlief immer nur eine halbe Stunde und fing dann an zu wimmern und zu quengeln und wurde schließlich wach, und Schroder ebenfalls. Wie auch seine Frau. Sie wechselten sich damit ab, es zu füttern. Irgendwann hat sich das Baby so vollgeschissen, dass Schroder dachte, sie müssten einen Exorzisten rufen, um den Gestank auszutreiben. Es war eine Nacht mit unterbrochenem Schlaf nach einer Woche mit unterbrochenem Schlaf, und es kommt ihm so vor, als wäre es nie anders gewesen. Er liebt seine Kinder mehr als alles andere, aber jede Nacht zwischen vier und fünf Uhr denkt er, dass der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Vater lediglich darin besteht, dass ein guter Vater dem Baby kein Kissen aufs Gesicht drückt, um es zum Schweigen zu bringen. Er weiß aus seinem alten Job, dass es im Laufe der Jahre eine Menge schlechter Väter gegeben hat. Und schlechter Mütter.
Aber es gab heute Morgen auch Anlass zur Freude. Gründe, zufrieden zu sein. Joe hat die Polizei gestern Abend zu einer Leiche geführt. Es war keine Falle. Melissa hat sich nicht blicken lassen. Es gab keine Explosionen, und es wurde kein Blut vergossen. Schroder hatte sich auf schlechte Neuigkeiten eingestellt. Als das Telefon klingelte, hätte er aus Sorge fast nicht abgenommen. Aber es war nicht Joe, der vom Handy der toten Beamtin aus anrief, sondern Kent höchstpersönlich, um ihm Bericht zu erstatten.
Der erste Teil des Deals war über die Bühne gegangen. Für den Rest der Welt ist die Leiche immer noch verschwunden. Jonas Jones wird der große Held sein. Oder die Sache wird unglaublich peinlich für ihn, sollte es sich bei der Leiche um jemand anders handeln. Doch wer Jones kennt, weiß, dass er einen Weg finden wird, auch das ins Positive zu wenden. Dann wird er sagen, Calhoun sei selbst in der Geistwelt zunächst mal und vor allem ein Cop.
Und , hatte Kent gesagt, haben Sie von den Studenten gehört?
Ja, hab ich.
Ich verstehe die jungen Leute einfach nicht, sagte sie .
Keiner tut das, erwiderte er . Nicht mal die jungen Leute selber.
Es wurden Leute getötet, Menschen leiden, aber für diese Kinder ist das alles nur ein Anlass, Party zu machen. Ich hoffe nur, dass keiner von ihnen sich als eines der Opfer verkleidet. Glauben Sie, dass sie das tun?
Schroder wusste es nicht, aber er hoffte, nicht, und das sagte er ihr auch.
Auf dem Weg zum Fernsehsender holt er sich einen Kaffee und wirft ein paar Koffeinpillen ein, die er mit dem ersten Schluck Kaffee runterspülte. Die Extradosis hilft ihm,
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