Opferzeit: Thriller (German Edition)
Milchtüte in jenen von Sallys Abfalleimern, auf dem Recycling steht. Sie legt viel Wert auf Umweltschutz. Letzte Nacht hat sie in Sallys Bett geschlafen. Es war zu weich. Es hat sie an ein Märchen erinnert.
Sally tut kaum etwas, während Melissa sich fertig macht. Im Grunde gibt es auch nicht viel für sie zu tun. Letztes Mal, als Melissa hier war, lag der Fall noch völlig anders. Da brauchte Melissa eine Krankenschwester. Und Sally war Krankenschwester. Melissa brauchte Hilfe, Sally half ihr, und zur Belohnung ließ Melissa sie am Leben. Sie musste Sally lediglich davon überzeugen, anschließend nicht zur Polizei zu gehen, und sie hatte jede Menge überzeugende Argumente. Außerdem ließ sie Sally am Leben, weil sie genau wusste, dass sie drei Monate später – das war heute – wiederkommen würde. Wovon Sally natürlich keine Ahnung hatte.
Doch jetzt ist Melissa zurück, und Sally ist ganz offensichtlich nicht erfreut darüber, doch es gibt wenig, was sie dagegen unternehmen kann. Melissa beendet ihr Frühstück. Es ist nicht so gesund, wie Sie es sich eigentlich gewünscht hätte, aber es ist eine gute Mahlzeit. Eine sättigende Mahlzeit. Genau die Art von Mahlzeit, wie man sie gerne zu sich nimmt an einem Morgen, an dem sich das Schicksal des eigenen Geliebten entscheidet.
Vermutlich hat Raphael inzwischen seine Position im Bürogebäude bezogen. Er hat das Gewehr aus dem Versteck geholt und ist in die Polizeiuniform geschlüpft. Sie malt sich aus, wie er sich hinsetzt und versucht, seine Nerven zu beruhigen. Vielleicht hat er sich ein Foto seiner Tochter mitgebracht, das ihm Gesellschaft leistet. Melissa fragt sich, ob er vielleicht zu nervös ist, und ob ihn diese Nervosität sein Ziel verfehlen lässt.
Es gab von Anfang an Schwachpunkte in ihrem Plan. Und die werden jetzt immer offensichtlicher.
Sie fängt an, sich Sorgen zu machen.
Eine Aufregung, die in der Nacht noch nicht da war, überrollt sie jetzt, und plötzlich hat sie das Gefühl, ihr Plan könne niemals funktionieren. Am besten sollte sie den Schaden begrenzen, Sally freilassen und sich aus dem Staub machen.
Doch stattdessen lässt sie Sally gefesselt auf dem Boden im Schlafzimmer liegen und fährt mit dem Wagen in die Stadt. Es herrscht dichter Verkehr, aber sie hat genügend Zeit eingeplant. Im Bereich des Krankenhausparkplatzes finden Straßenbauarbeiten und Renovierungsmaßnahmen statt. Erst vor ein paar Tagen hat sie die Örtlichkeiten überprüft und ihre Vermutung bestätigt gefunden – auf dem Parkplatz sind nirgendwo Überwachungskameras angebracht. Das ist typisch für Christchurch – genau dort, wo eigentlich Kameras hängen sollten, fehlen sie zuverlässig. Oder vielleicht ist es auch typisch für Krankenhäuser – man geht dort wohl davon aus, dass eine gute alte Schlägerei kein großes Ding ist, wenn sich das Opfer nur gut dreißig Meter weiterschleppen muss, um Hilfe zu erhalten. Oder vielleicht betrachtet man es sogar als förderlich fürs Geschäft. Melissa fährt gerade an einer Gruppe Straßenbauarbeiter vorbei, die neuen Asphalt legen und nun alle in ihrer Arbeit innehalten, um ihr nachzustarren. Sie trägt ihren Fettanzug heute nicht. Sie lächelt ihnen zu, parkt dann hinter dem Krankenhaus und steigt aus dem Wagen. Nachdem sie ein paar Münzen in die Parkuhr geworfen und das Ticket in Empfang genommen hat, legt sie es aufs Armaturenbrett, schnappt sich den Rucksack mit den C4-Zündern und schließt den Wagen ab. Dann marschiert sie in Richtung Krankenhaus.
Presslufthämmer, Baumaschinenlärm und die lauten Gespräche von Männern hallen in ihrer Umgebung wider. Sie trägt Sallys dunkelblauen Schwesternkittel. Er steht ihr nicht besonders gut, aber außer in Pornofilmen und auf Genesungstelegrammen macht man in einem Schwesternkittel ohnehin selten eine gute Figur. Der Kittel ist jedoch nicht alles, was sie von Sally mitgenommen hat. Sie verwendet ihre Magnetkarte, um eine Tür mit der Aufschrift Nur für Personal zu öffnen. Sie betritt einen Korridor, in dem die Klimaanlage läuft, obwohl das an diesem Tag nicht unbedingt nötig wäre. Der Gang ist etwa zwanzig Meter lang, ohne natürliches Licht und mit einem Dutzend Neonröhren an der Decke. Sie geht bis zum Ende und setzt erneut die Magnetkarte ein, um Zugang zur Notaufnahme zu erhalten. Sie biegt in einen weiteren Korridor und folgt der Beschreibung, die ihr Sally bereitwillig gegeben hat. Nun ja, bereitwillig würde Sally es vielleicht nicht gerade
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