Opferzeit: Thriller (German Edition)
die anderen Gefangenen starren mir schweigend aus ihren Türschlitzen hinterher. Ich kann nicht aufrecht gehen wegen des Schocks der jüngsten Geschehnisse – und vor allem wegen der krampfartigen Schmerzen in meinen Eingeweiden. Zweifellos muss sich eine Geburt so anfühlen – nur noch schlimmer.
Sie eskortieren mich zum Vordereingang des Gefängnisses. Es ist wie am Samstag zuvor. Der Gefängnisdirektor ist da, Kent ist da, Jack ist da und eine Gruppe weiterer Arschlöcher, und ich fühle mich beschissen. Der Direktor trägt wieder denselben Anzug mit Krawatte und dieselbe Verachtung im Gesicht. Man händigt mir die Schnürsenkel aus und einen Gürtel, und alle sehen mir dabei zu, wie ich sie in meine Kleidung einfädle. Der Direktor mustert mich genervt. Dann werde ich gefesselt.
Draußen ist es sonnig und kalt, aber nicht frostig. Vor dem Gefängnistor stehen sechs Streifenwagen und dazwischen ein Transporter. In jedem Streifenwagen sitzen zwei bewaff nete Beamte. Auch in dem Transporter hocken ein paar Cops. Es sieht aus, als wollten sie in den Krieg ziehen. Ich mache einen Schritt auf den Transporter zu, aber jemand legt mir die Hand auf die Schulter und fordert mich auf, stehen zu bleiben. Also bleibe ich stehen. Die Beamten im Transporter und in den Streifenwagen machen sich bereit, und eine halbe Minute später brausen sie davon, und zwar ohne mich und Jack und Kent und ohne die beiden Beamten, die uns schon am Samstag begleitet haben.
»Was geht ab?«, frage ich. »Ist der Prozess schon vorbei?«
Kent blickt mich finster an. »Mir ist klar, warum Leute auf dich reingefallen sind, Joe.«
»Was soll das heißen?«
»Nichts. Halt einfach die Klappe, klar?«
Kaum ist der Konvoi losgefahren, trifft ein weiterer Transporter ein. Es ist dasselbe Modell, aber während der erste weiß war, ist dieser hier rot, er ist schmutzig und an manchen Stellen ein bisschen verbeult und auf den Seitenwänden prangt in großen Lettern Whett Paint Services, darunter der Name Lenard Whett , seine Handynummer und ein Stern mit dem Versprechen: Geld-zurück-Garantie . Eine Geld-zurück-Garantie auf dem Lieferwagen eines Handwerkers verrät mit tödlicher Sicherheit, dass es sich um eine Fälschung handelt. Der Wagen hält neben uns.
»Also, Joe, du weißt ja, wie’s läuft.«
Ich klettere in den Transporter. Dann rücke ich auf der Sitzbank rüber, damit sie meine Handschellen an die Öse ketten können. Als würde ich versuchen abzuhauen. Dann läuft alles so wie gestern, nur biegen wir nicht ab, um am Flughafen vorbeizufahren, einen Spaziergang in der Nähe einer Farm zu machen, Leichen zu suchen und darüber zu diskutieren, ob man mich erschießen soll oder nicht. Stattdessen fahren wir weiter geradeaus in Richtung Innenstadt. Ich habe die City seit einem Jahr nicht gesehen, und mir war bis jetzt gar nicht bewusst, dass ich sie vermisse.
»Ah, verfluchte Scheiße«, brüllt der Beamte, der mir gegenübersitzt, als ich ihm auf die Schuhe kotze.
»Tut mir …«, bringe ich hervor, ohne aber noch das leid hinzufügen, weil ich erneut kotzen muss, und davon abgesehen tut es mir auch gar nicht leid. Meine Innereien rebellieren. Ich hab es nicht mal kommen spüren. Zum Teufel, ich weiß nicht mal, was da drinnen alles ist, eine Bauchspeicheldrüse, die Leber, anderes fleischiges Zeug, geschwächt durch das Sandwich vom Samstag und dann durch Caleb Coles Faust gewaltsam komprimiert.
Jack macht Anstalten, seitlich ranzufahren.
»Nicht«, sagt Kent. »Fahr einfach weiter.«
»Hier hinten stinkt’s«, sagt der Beamte mit den vollgekotzten Schuhen.
»Was zum Teufel fehlt ihm?«, fragt Kent.
»Er sieht nicht allzu gut aus«, sagt der andere Beamte. »Ich schätze, er hat das Vorprozess-Fracksausen.«
Das Vorprozess-Fracksausen gemixt mit einem Vorprozess-Mordanschlag, gewürzt mit einem Spritzer Scheißesandwich.
»Joe? Hey, Joe, geht’s dir gut?«, fragt Kent, und zum ersten Mal seit langer Zeit klingt jemand wirklich besorgt um mich. Es ist rührend. So rührend, dass ich erneut zu würgen anfange, und dann brennt etwas in meiner Kehle auf seinem Weg nach draußen und ruiniert bereits mein zweites Hemd an diesem Tag.
»Joe?«
Ich blicke zu ihr auf. Ich nicke. Mir geht’s gut. Richtig beschissen gut. Ich wische mein Gesicht an meinen Händen ab, und jetzt sind meine Handflächen nass und mit Erbrochenem verschmiert. Ich reinige sie an dem Hemd, das ohnehin versaut ist. In manchen Winkeln des Fahrzeugs sehe ich
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