Opferzeit: Thriller (German Edition)
sollen.«
»Ich will nicht sterben«, erkläre ich ihr.
»Du wirst nicht sterben«, sagt sie. »Bleib einfach ruhig.« Sie steigt auf den Fahrersitz. Dann blickt sie über die Schulter zu mir nach hinten.
»Ich hab dich auch vermisst«, sagt sie.
»Ich wusste, dass du mich rausholen würdest«, erkläre ich ihr.
»Ich war schwanger«, sagt sie. »Von unserem gemeinsamen Wochenende. Ich hab das Baby zur Welt gebracht. Es ist ein Mädchen. Es ist dein Mädchen. Unser Mädchen. Sie heißt Abigail. Sie ist wunderschön.«
Das ist einfach zu viel auf einmal, um es noch richtig verarbeiten zu können. Ich bin Vater? »Fahr mich bitte zurück ins Gefängnis«, sage ich, und dann falle ich endlich in Ohnmacht.
Kapitel 68
Schroder kann den Himmel sehen. Er dehnt sich blau in alle Richtungen, nur ein paar Wolken stehen dort oben, eine sieht aus wie eine Palme. Eine andere ähnelt einem Gesicht. Ganz in seiner Nähe türmt sich eine dunkelgraue Wolke. Es ist Rauch. Er quillt aus seinem Wagen empor. Er versucht, den Kopf zu bewegen, aber es geht nicht. Er kann die Augen bewegen. Das ist immerhin ein Anfang, wenn auch kein beruhigender.
Er kann sich genau an jedes Detail erinnern. Es ist merkwürdig. Bei einem solchen Ereignis besteht an sich eine recht gute Chance, dass ein paar Sekunden, ein paar Minuten, ja sogar ein paar Tage für immer aus der Erinnerung gelöscht werden. Aber nicht bei ihm. Aus irgendeinem Grund fragt er sich, ob das damit zusammenhängt, dass er letztes Jahr für ein paar Minuten tot war, bevor er wieder zurück kam, und ob sein Bewusstsein aufgrund dieser Erfahrung jetzt etwas anders verdrahtet und möglicherweise immun gegen das Vergessen von Dingen ist, aber dann verwirft er diese Idee als Blödsinn.
Er hat Angst davor, seine Arme und Beine zu bewegen. Er muss wissen, ob sie noch funktionieren, aber was, wenn sie es nicht mehr tun? Was, wenn er nie wieder gehen kann? Indem er gar nicht erst versucht, sie zu bewegen, kann er diesen grausamen Schicksalsschlag auf später verschieben. Seine Ohren dröhnen. Er kann den kalten Boden unter sich spüren. Einer seiner Arme ist unter seinem Rücken eingeklemmt. Sein rechter. Das macht ihn glücklich. Wenn sein Rücken gebrochen wäre, könnte er den Arm ja wohl kaum fühlen, oder? Seinen linken Arm kann er nicht spüren. Er schmeckt Blut. Er fühlt, dass noch mehr Blut über sein Gesicht rinnt. Über das Dröhnen in seinen Ohren hinweg kann er Schreie hören.
Er schließt die Augen und betet, er betet zum ersten Mal, seit er ein kleiner Junge war und beschlossen hat, dass Beten nichts bringt in dieser Welt, dass das Beten und das Elend ein unzertrennliches Paar sind genauso wie Butter und Marmelade, aber jetzt betet er, dass seine Beine sich bewegen, und das tun sie auch, sie bewegen sich ein kleines bisschen und das ohne Schmerzen, aber er weiß, das rührt nicht daher, dass seine Gebete erhört wurden, sondern dass er einfach nur Glück hatte. Das ist alles, er hatte Glück, und manch andere eben nicht. So wie vermutlich Kent. Es gelingt ihm, sich ein wenig auf die Seite zu rollen, der blaue Himmel verschwindet und wird ersetzt durch Dächer, dann durch Bürofenster und Wände und schließlich durch die Straße. Sein Auto ist hochgeschleudert worden, hat sich dabei um neunzig Grad gedreht und ist dann wieder herabgefallen. Es sind keine Flammen zu sehen. Alles ist schrecklich verbeult, überall liegen Glasscherben. Andere Menschen liegen am Boden, einige so wie er auf der Seite, um die Welt betrachten zu können, andere rühren sich überhaupt nicht.
Hier hat es Todesopfer gegeben. Er betet, dass ihre Zahl nicht allzu hoch ist.
Er betet, dass Gott ihn erhört.
Er dreht sich wieder auf den Rücken und ruht sich aus. Eigentlich will er das nicht, aber er hat keine andere Wahl. Er schließt die Augen. Seine Brust fühlt sich eng an. Jemand legt ihm die Hand auf die Schulter, er öffnet seine Augen, und Detective Wilson Hutton beugt sich über ihn. Die Menschen haben jetzt aufgehört zu schreien und stattdessen zu schluchzen begonnen.
»Halt durch«, sagt Hutton.
»Kent«, sagt Schroder.
»Es sieht … es sieht übel aus«, sagt Hutton.
Schroder kann Sirenen hören. Außerdem bemerkt er meh rere Rettungswagen in seiner Nähe. Er hat sie nicht kommen sehen.
»Wie lange war ich weg?«
»Drei, vielleicht vier Minuten.«
»Joe?«, fragt er.
Hutton zuckt die Achseln, was eine Lawine von rollendem Fleisch sein Kinn hinab bis auf die Brust in Gang
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