Opferzeit: Thriller (German Edition)
Angst, wieder im Gefängnis zu landen.
Natürlich gehört das Gefängnis der Vergangenheit an. Melissa hat mich gerettet. Auch diese Geschichte werden wir Abby an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erzählen. W ir werden ihr vielleicht einige Fotos aus Kindertagen zeigen: Das erste Mal, als sie sich aus eigener Kraft umdrehte, ihre ersten Schritte, das erste Mal, als sie ein Haustier tötete. Nachdem ich angeschossen, gerettet und geheilt worden war, wurde dem Justizsystem klar, dass ich bereits genug gestraft war, und sie schlossen sich meiner Art zu denken an. Ich wurde auf freien Fuß gesetzt. Psychologische Beratung war ein Teil dieses Deals. Zehn Jahre lang sollte ich zweimal wöchentlich Benson Barlow aufsuchen, und in dieser Zeit wurden wir beide ziemlich gute Freunde. Zwar nicht gut genug, um unsere Freizeit miteinander zu verbringen, aber immerhin gut genug, um übers Wetter zu plaudern, wenn ich ihm auf der Straße begegnete.
Es heißt immer, wenn man stirbt, läuft das eigene Leben noch einmal innerlich vor einem ab. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum mein Leben jetzt innerlich vor mir abläuft, vielleicht sind es die Ereignisse der letzten paar Tage, die sich noch einmal ins Gedächtnis bringen, die Fahrt hinaus in den Wald, mit Kent und ihrem Team, das Geld, das ich verdient habe, die …
Die letzten paar Tage?
Nein. Da stimmt was nicht. Diese Tage liegen doch mehr als zwanzig Jahre zurück.
Es ist ein warmer Morgen, die Sonne scheint mir ins Ge sicht, ich liege im Bett, und von irgendwoher kann ich Melis sas Stimme hören. Ich rieche gebratenen Speck und Eier. Ich bin glücklich. Ich bin zufrieden. Ich bin der Mann, der ich niemals glaubte werden zu können. Draußen steht ein weißer Holzzaun, später werde ich hinausgehen, um den Rasen zu mähen, ich werde über den Zaun hinweg ein wenig mit dem Nachbarn plaudern und ihm dabei helfen, seinen alten Kühlschrank aus der Küche in die Garage zu schaffen. Außer dem kann ich Sallys Stimme hören, und die habe ich zum letzten Mal gehört vor Jahren …
… Monaten …
… aber jetzt ist sie hier, sie unterhält sich mit Melissa, denn Sally wird morgen auch kommen. Ebenso wie Carl Schroder. Schroder hat sich letztlich als ziemlich netter Kerl erwiesen, vermutlich weil er zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat und sie ihm dort den Cop aus dem Leib gefickt haben.
Ich fühle mich schläfrig, und die Stimmen werden leiser. Träume innerhalb von Träumen. Fetzen aus der Vergangenheit, die in meinem Bewusstsein aufblitzen. Ich öffne die Augen und blicke hinaus in eine Welt, die mit Sally angefüllt ist. Sie beugt sich über mich. Schlafen wir miteinander? Ich versuche, wieder zu diesem weißen Holzzaun zurückzukehren, wo in der Küche Speck brutzelt, aber irgendetwas hält mich hier. Es ist etwas so Starkes, dass ich sogar genau den Schmerz in meiner Schulter wieder spüre, den ich damals spürte. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Die Luft schmeckt abgestanden. Das Bett fühlt sich nicht wie meines an. Ich liege im Bett eines Fremden, üble Dinge geschehen, und ich schließe einfach die Augen und lasse es geschehen, so wie damals bei meiner Tante all die Jahre. Ich öffne die Augen. Melissa steht an der Wand. Sally bewegt sich über mir. The Sally. Ich schließe meine Augen. Es ist Zeit aufzuwachen. Zeit, um bei meiner Familie zu sein.
Ich wache nicht auf.
Die Dinge kommen und gehen. Einen Moment lang ist Sally über mir, dann ist da niemand mehr, dann ist sie wieder da. Sie macht sich an meiner Einschusswunde zu schaffen. Das erinnert mich an vergangene Zeiten, damals vor zwanzig Jahren …
… nein, so lang ist das nicht her …
… weit zurück in der Vergangenheit, Erinnerungen die längst tot und begraben sein sollten.
»Wo ist Abby?«, frage ich.
»Sie ist in Sicherheit«, sagt Melissa. »Du wirst sie schon bald sehen. Sie vermisst dich.« Ich nehme an, das ist so ein typischer Mutterspruch, obwohl meine Mutter so etwas nie gesagt hat. Es bedeutet auch, dass die Melissa, die ich vor einem Jahr kannte, nicht dieselbe Melissa ist, die jetzt vor mir steht.
Vor einem Jahr?
The Sally wirkt eifersüchtig – und mir wird klar, dass ihre Liebe zu mir nicht nachgelassen hat, ihr Herz schlägt nach wie vor heftig für mich, und Melissa sollte ihr besser nicht den Rücken zukehren, denn nichts und niemand ist so verrückt wie eine fette, verliebte Frau.
»Es ist ihr Geburtstag«, sage ich.
»Was ist los mit ihm?«, fragt Melissa.
»Sie ist
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