Opferzeit: Thriller (German Edition)
zusammengefalteten Händen da, und bestimmt hat sie auch auf der Beerdigung ihres Ehemanns so dagesessen.
Die Augen aller Anwesenden sind auf Melissa gerichtet.
»Nur zu«, sagt Raphael.
Sie räuspert sich. »Also, diese Volksbefragung …«, sagt sie, und ein Raunen geht durch die Versammelten, das Raunen verbindet sie und verrät ihr, dass sie ein heiß diskutiertes Thema angesprochen hat, ein Thema, bei dem sich alle einig sind.
Raphael hebt die Hände und macht eine beschwichtigende Geste. Und die Teilnehmer verstummen. »Reden sie weiter«, sagt er.
»Na ja, die bevorstehende Befragung, wir alle bekommen die Gelegenheit, über die Todesstrafe abzustimmen«, sagt sie. »Meine Schwester, sie wurde ermordet«, sagt sie. Ihre Schwester wurde von einem Polizisten ermordet, der sie erst vergewaltigt, dann getötet und sich schließlich selbst umgebracht hat. Einige Leute würden das als Hattrick bezeichnen. Melissa würde es Unglück nennen, gefolgt von einem noch größeren Unglück, gefolgt von einem großen Glück. Doch all das erwähnt sie nicht. »Und ich finde, wenn jemand die Todesstrafe verdient, dann Joe Middleton. Ich meine, er hat den Tod verdient, darum bin ich …«
»Er hat es absolut verdient zu sterben«, ruft jemand, eine Frau auf der anderen Seite des Kreises, ihr Gesicht ist rot vor Wut und hat schon lange kein Make-up mehr gesehen, und ihr schwarzes, langes Haar ist zerzaust.
»Das finde ich auch«, sagt jemand anders, ein Mann, der ein paar Stühle entfernt von ihr sitzt. Die Anwesenden halten inne, in Erwartung weiterer Gefühlsausbrüche, aber es kommt nur noch einer, ein Tötet diesen Wichser , von einem Mann zwei Stühle weiter.
»Fahren Sie fort«, sagt Raphael.
»Also, was passiert, wenn er ungeschoren davonkommt? Was passiert, wenn er auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert? Was dann? Wenn er wieder auf freien Fuß kommt? Das wäre nicht gerecht. Nicht mir gegenüber, nicht meiner Schwester gegenüber, nicht gegenüber vielen in diesem Raum hier. Was sollen wir in dem Fall tun, um dafür zu sorgen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt?«
»Das ist eine gute Frage«, sagt Raphael, und Melissa weiß das. Darum hat sie sie gestellt.
»Und darauf gibt es eine einfache Antwort«, sagt ein Mann weiter hinten im Kreis, »wir werden ihn töten.«
Ein anderer Mann steht auf. »Ja, wir werden ihn töten. Wir werden diesen Scheißkerl zur Strecke bringen und ihn abknallen.«
Raphael streckt eine Hand aus. »Setzt euch«, sagt er. »Bitte, wir sind nicht hier, um Gewalt zu predigen.«
»Das sollten wir aber«, sagt die Frau, die als erste den Mund aufgemacht hat. Melissa mustert die Leute, die sich zu Wort gemeldet haben, und setzt sie auf ihre Liste möglicher Mitarbeiter. Wenn das so weitergeht, kommt jeder hier als Helfer infrage. Dann kann sie eine ganze Armee aufstellen.
»Dafür sind wir nicht hier«, sagt Raphael. »Miss … wie heißen sie?«
»Stella«, sagt Melissa. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn er ungeschoren davonkommt.«
»Nun, Stella, er wird nicht davonkommen«, sagt Raphael bestimmt, und in diesem Moment vergisst Melissa die anderen um sich herum, denn gegenüber Raphael empfindet sie ein starkes Gefühl. Dasselbe Gefühl wie letztes Jahr, als sie Joe Middleton zum ersten Mal begegnet ist. Es ist im Laufe der Jahre in ihr gewachsen, seit ihr Uniprofessor sie vergewaltigt hat, ein Gefühl, das ihr eingebläut wurde, als sie eingeklemmt und blutend unter ihm lag. Raphael ist ihr Mann. Sie kann es spüren. Manche Leute erkennen den Dichter in einem anderen Menschen, oder sein friedfertiges Wesen, oder sie haben einen Schwulenradar. Sie erkennt die Wut in anderen Menschen, und Raphael trägt definitiv etwas Dunkles in sich, genau jene Art von Dunkel, die sie gehofft hatte, heute Abend hier zu finden.
»Und wenn doch? Wenn man ihn nicht schuldig spricht?«
»Dann holen wir ihn uns«, sagt jemand auf der anderen Seite des Kreises, doch Melissa schaut nicht hin, sieht nicht, zu wem die Stimme gehört, denn für sie gibt es jetzt nur noch Raphael. Raphael, dessen blaue Augen sie hinter seiner Designerbrille hervor anstarren, Raphael, dessen Stirn pulsiert und der die Zähne aufeinanderbeißt. Ja, hinter diesen strahlend blauen Augen lauern böse Gedanken. Keine Frage.
»Dann kommt er in Schutzhaft oder wird an einem unbekannten Ort untergebracht. Es tut weh«, sagt sie, »es tut mir weh, dass sie nicht mehr da ist, und sollte Joe ungeschoren davonkommen, dann bringe ich
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