Opferzeit: Thriller (German Edition)
Namen ihrer Schwester fragen.
»Wie hieß sie?«, fragt er.
»Daniela Walker«, sagt sie; sie hat sich für Daniela entscheiden, weil sie ihren Ehemann vorhin getroffen und getötet hat, denn so gibt es eine Person weniger, die sie der Lüge bezichtigen kann.
Raphael hält weder inne noch lässt er sich sonst irgendwie anmerken, ob er ihre Lüge durchschaut hat. »Das mit Daniela tut mir leid«, sagt er.
»Was war der wirkliche Grund, warum Sie diese Gruppe gegründet haben?«, fragt sie.
Diesmal hält er inne, nur den Bruchteil einer Sekunde, aber lang genug, um Zweifel an dem zu säen, was auch immer er als Nächstes sagen wird. »Um den Menschen zu helfen«, sagt er. »Was glauben Sie denn, warum ich sie gegründet habe?«
»Um Menschen zu helfen«, sagt sie. Sie wünschte, sie könnte einfach mit der Sprache rausrücken und ihn bitten, Joe zu töten. Er ist der perfekte Kandidat dafür. Ist es wirklich so einfach? »Ich glaube, ich bin hergekommen, damit mir jemand sagt, dass Joe seine gerechte Strafe bekommt, egal was auch passiert.«
Er beißt die Zähne aufeinander, während er bedächtig nickt. »Das wird er.«
»Werden Sie für die Todesstrafe stimmen?«, fragt sie.
»Ja«, sagt er. »Wir haben im letzten Monat eine Gegen-demonstration vorbereitet. Eben haben wir darüber geredet, als Sie auf der Toilette waren. Sie können sich uns gerne anschließen.«
»Sie demonstrieren gegen die Todesstrafe? Ich dachte, Sie hätten gesagt …«
Er unterbricht sie. »Wir demonstrieren gegen die Menschen, die dagegen demonstrieren«, sagt er. »Vor dem Gerichtsgebäude werden Leute gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe demonstrieren. Und wir werden ebenfalls dort sein, um uns Gehör zu verschaffen. Diese Leute, diese Menschenfreunde, die haben doch keine Ahnung, was wirklich los ist.«
»Ja, ich weiß«, sagt sie. »Und wenn der Gesetzesentwurf verabschiedet wurde und Joe zum Tode verurteilt wird, kann es immer noch zehn Jahre dauern, bis das Urteil vollstreckt wird.«
»Das ist gut möglich«, sagt er. »Ja, sogar wahrscheinlich.«
»Können Sie damit leben?«, fragt sie.
Er runzelt die Stirn und neigt seinen Kopf leicht zur Seite. »Wollen Sie andeuten, es gebe eine Alternative?«
»Ich habe erst für mich gerade mit all dem abgeschlossen«, sagt sie und tastet sich vorsichtig heran.
»Und was denkt Ihr Mann?«
»Er hat mich verlassen«, sagt sie. »Er meint, seit dem Tod meiner Schwester sei ich nicht mehr dieselbe.«
Raphael betrachtet sie von oben bis unten, ihren Babybauch, und bestimmt denkt er, dass ihr Mann ein Scheißkerl ist. »Als Angela gestorben ist«, sagt er, »hat mich Janice auch verlassen. So etwas, naja, eine Ehe hält das oft nicht aus.«
»Wenn Sie derjenige wären, der es tun dürfte«, sagt sie, »wenn Sie derjenige wären, der den Hebel umlegen oder den Knopf drücken dürfte, oder was auch immer man tun muss, um Joe zu töten, würden Sie es tun?«
»Nein«, sagt er, nimmt erneut den Stuhl und stellt ihn auf den Stapel. »Ich wünschte, ich könnte es, aber so bin ich nicht gestrickt.«
Sie reibt sich erneut den Bauch. Das Treffen hier war eine riesige Zeitverschwendung. Nur noch drei Tage, und das Schicksal hat sie an den falschen Ort geführt. Sie ist selber schuld, weil sie auf das Schicksal vertraut hat. Und sie kommt sich dumm vor, weil sie in Raphael etwas gesehen hat, was offensichtlich nicht da ist.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagt sie.
»Schön, Sie kennengelernt zu haben«, sagt er.
Sie schnappt sich ihre Jacke und geht zur Rückseite der Halle. Ihr gestohlener Schirm wurde gestohlen. Und sie fragt sich, ob sich das Universum auf diese Weise wieder ins Gleichgewicht bringt.
Einige der Teilnehmer verlassen gerade den Parkplatz, andere stehen unter dem Dachvorsprung des Gebäudes und unterhalten sich, und manche von ihnen rauchen. Andere sind drinnen auf der Toilette oder trinken Kaffee. Es gießt immer noch in Strömen, und der Wind hat aufgefrischt und zerrt an den Schirmen der Leute, die hier draußen stehen. Melissa geht vorsichtig zu ihrem Wagen, schließt ihn auf und steigt ein; die Jacke schützt ihren Oberkörper vor dem Regen, aber ihre Hose ist klatschnass. Sie hasst es, mit dem Schwangerschaftsanzug zu fahren, also zieht sie ihn aus, es ist eine unangenehme Prozedur, die ungefähr eine halbe Minute in Anspruch nimmt, weil sie vorher ihre Jacke nicht ausgezogen hat. Bei dem dichten Regen kann man sie im dunklen Wagen nicht sehen, und selbst wenn,
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