Opferzeit: Thriller (German Edition)
sich auf einem Block Notizen. Ich werde langsam ungeduldig. Aber ich unterbreche ihn nicht. Ich starre ihn weiter an, und nach ein paar Minuten schweife ich in Gedanken ab. Ich denke an Melissa und daran, wie wir unsere erste gemeinsame Nacht verbringen werden. Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was wir tun werden. Dann wandern meine Gedanken weiter in die Zukunft – eine Woche, einen Monat, zehn Jahre. Aber schließlich holt mein Anwalt mich wieder in die Gegenwart zurück.
»Sind Sie sicher, Joe, dass Sie das tun wollen? Die ganze Sache wird Sie höchstwahrscheinlich irgendwann einholen und Ihnen um die Ohren fliegen.« Er verzieht keine Miene. Wie ein Mann, der sich ein Fußballspiel anschaut, nicht nur gleichgültig, wer gewinnt, sondern auch in Unkenntnis der Regeln. Aber vielleicht ist es nur der Gesichtsausdruck eines Anwalts, dem sein Klient scheißegal ist.
»Ich möchte es machen«, sage ich.
»Okay«, sagt er. Er steht auf und hämmert gegen die Tür. Der Wärter öffnet, und sie wechseln ein paar Worte, dann setzt sich mein Anwalt wieder hin, und einige Minuten später kehrt Schroder ins Zimmer zurück. Er wirkt müde und genervt. Und zwar nicht zu knapp.
»Haben wir einen Deal?«, fragt Schroder.
»Ja«, sagt mein Anwalt.
»Fast«, sage ich.
Beide Männer schauen mich an. Mein Anwalt seufzt und gibt seine Mir-ist-alles-scheißegal-Miene auf. Schroder seufzt ebenfalls, und vielleicht brechen sie gleich gemeinsam auf und seufzen sich heute Abend gegenseitig in den Schlaf.
»Die Sache ist die, ich sehe das nur undeutlich vor mir«, sage ich. »Ich kann mich nicht genau erinnern, wo er begraben liegt.«
»Ja. Das hast du jetzt schon tausendmal gesagt«, sagt Schroder.
»Weil Sie wissen müssen, wie undeutlich das alles ist.«
»Wir haben’s kapiert, Joe«, sagt mein Anwalt, »wie wär’s wenn Sie jetzt zur Sache kommen.«
»Also, die Erinnerung daran, wo Calhoun liegt, ist so verschwommen, dass es mir nicht möglich ist, eine Wegbeschreibung zu geben. Ich müsste Sie dorthin führen.«
Meine beiden Besucher schweigen. Schroder fängt an, den Kopf zu schütteln. Mein Anwalt ebenfalls. Es wirkt, als würden sie einen Wettstreit veranstalten. Dann schauen sie einander an. Man muss den beiden zugutehalten, dass keiner von ihnen eine Was-soll-man-da-tun?-Geste macht.
»Du wirst uns nirgendwohin führen«, sagt Schroder. »Wir treffen keine Vereinbarung, bei der du hier rauskommst, und sei es auch nur für eine Stunde.«
»Dann werdet ihr Calhoun niemals finden«, sage ich.
»Doch, das werden wir. Tote haben die Angewohnheit, irgendwann wieder aufzutauchen«, sagt er.
»Nicht immer«, antworte ich. »Aber das wissen Sie. Las sen Sie mich Sie zu ihm führen. Vielleicht finden Sie da etwas, das Ihnen hilft, Melissa aufzuspüren – das wollen Sie doch, oder? Mehr als alles andere. Sie kriegen von mir das, und Ihr übersinnlich begabter Kumpel kriegt, was er will.«
»Mehr als alles andere will ich, dass man dich hinrichtet für das, was du dieser Stadt angetan hast«, antwortet Schroder, aber ich denke, in Wirklichkeit meint er: Er will, dass man mich hinrichtet für das, was ich ihm angetan habe. Ich habe ihn wie einen Idioten aussehen lassen. Er erhebt sich langsam. Mein Anwalt streckt die Hand aus und legt sie Schroder auf den Arm, und wäre meine Mutter jetzt hier, wäre sie inzwischen überzeugt, dass diese beiden Männer außerhalb dieser Wände Dinge tun, die sie aufs Schärfste missbilligen würde.
»Halt«, sagt mein Anwalt, und Schroder sinkt zurück auf den Stuhl. Mein Anwalt sieht mich an. »Was genau wollen Sie, Joe?«, fragt er. »Was wollen Sie erreichen, indem Sie die Leute zu der Stelle führen, wo Calhoun begraben liegt? Spekulieren Sie darauf, irgendwie abhauen zu können, wenn Sie mitkommen, anstatt den Weg zu beschreiben?«
»Ich habe es nicht nötig abzuhauen«, erkläre ich ihnen, und dann lache ich, nur um zu zeigen, wie dumm ihre Vermutung ist. Obwohl sie zutrifft. »Keine Jury der Welt wird einen Mann schuldig sprechen, der keine Kontrolle über seine Taten hatte. Aber ich kann euch nicht erklären, wo die Leiche ist, weil ich dazu einfach nicht in der Lage bin«, sage ich. »Wenn ich es könnte, würde ich es tun. Ehrlich, Carl, es ist einfach unmöglich. Was soll ich tun? Ihnen sagen, dass Sie am dritten Felsen nach links auf einen Feldweg biegen sollen? Das ist ein Jahr her. Kommen Sie, selbst Ihnen muss doch klar sein, dass das nicht möglich ist.
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