Ophran 3 Die entflohene Braut
es mir ein Vergnügen, den Doktor selbst zu ’olen. Isch kann zu Fuß ge’en, das ist bei diesen verstopften Straßen gewiss schneller als mit der Kutsche. Und niemand wird einem Dienstmädschen folgen. “
Rosalind war erleichtert über den Vorschlag. „Vielen Dank, Mademoiselle Colbert. Sie werden selbstverständlich gebührend für Ihre Mühe entlohnt werden. “
„Ce n’est pas necessaire, nischt nötig“, erklärte Annabelle. Sie drehte sich zur Treppe um, damit Rosalind ihr Lächeln nicht sah, als sie hinzufügte: „Isch tue es für Mademoiselle Amelia. “
15. KAPITEL
Die Menschenmenge vor der Londoner Villa der Belfords wurde allmählich unruhig.
Den Zeitungen zufolge sollte die Vermählung von Miss Amelia Belford mit Seiner Hoheit, dem Duke of Whitcliffe, um Punkt zwei Uhr in der St. Georges Church stattfinden. Mittlerweile war es jedoch bereits halb drei, und noch immer waren weder die Braut noch irgendein Mitglied ihrer Familie aufgetaucht. Noch seltsamer war, dass der Duke of Whitcliffe am Morgen höchstpersönlich vorgefahren war, wobei er, wie es hieß, einen verärgerten, aufgeregten Eindruck gemacht habe. Was hatte der Bräutigam dort zu suchen, fragten sich alle. War der Ehevertrag in letzter Minute geändert worden? Verlangte Seine Hoheit mehr Geld? Oder forderte dieser reiche Amerikaner, John Henry Belford, mehr als einen Adelstitel als Gegenleistung für seine einzige Tochter? Vielleicht war das törichte Mädchen abermals davongelaufen? Oder entführt worden? Oder es hatte einen Selbstmordversuch unternommen, indem es sich von der Treppe gestürzt, sich die Pulsadern aufgeschnitten oder Gift geschluckt hatte. Vielleicht hatte die Braut während ihrer so genannten Entführung ihre Jungfräulichkeit verloren, und Lord Whitcliffe weigerte sich, sie zu heiraten. Nein, das sei nicht einleuchtend, kamen alle rasch überein. Schließlich sollte Miss Belfords Mitgift angeblich über fünfhunderttausend Pfund betragen.
Kein Mann würde sich weigern, ein solch Schwindel erregendes Vermögen zu heiraten, selbst wenn die Braut einen Bankert unterm Herzen trüge.
Plötzlich rollte eine dunkle Kutsche die Straße hinab und hielt vor dem Haus der Belfords an. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge, als der alte Fahrer vom Kutschbock kletterte und den Wagenschlag öffnete. Dann stieg das hübsche, blonde Dienstmädchen aus, das man kurz zuvor aus dem Dienstbotenausgang hatte fortgehen sehen. Wen oder was hat diese junge Frau holen sollen, dass eine Rückkehr mit der Kutsche erforderlich ist, fragten sich die Schaulustigen verwundert. Bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnten, stieg eine Krankenschwester aus der Kutsche, deren Gesicht unter der Kapuze ihres schlichten grauen Wollumhangs kaum zu erkennen war. Es bereitete ihr offensichtliches Unbehagen, von der Menge angegafft zu werden, denn sie hielt den Kopf gesenkt und das Antlitz verborgen, als sie dem dritten Insassen aus der Kutsche half.
Ein älterer Herr mit Brille und borstigen, schneeweißen Haaren, die unter dem Rand seines hohen Hutes hervorlugten, kletterte langsam aus dem Wagen. Er war ganz in Schwarz gewandet, was nichts weiter hätte bedeuten können, als dass er eine Abneigung gegen farbenfrohe Kleidung hegte, doch die Menge legte es einhellig als böses Omen aus. Als die Krankenschwester seine schwere Ledertasche aus der Kutsche hob, schnappten die Zuschauer nach Luft. Ein Arzt, ganz so, wie alle vermutet hatten. Und das konnte nur eins bedeuten: Jemand lag im Sterben.
Die Zeitungsreporter bedrängten ihn mit Fragen: Wie hieß er? Wer war krank? Was fehlte der besagten Person? Würde sie überleben? Offenbar glaubten sie, er könne eine Diagnose stellen, ohne den Patienten überhaupt gesehen zu haben. Der alte Herr beachtete sie nicht, während er in Begleitung des Dienstmädchens und der Krankenschwester, die augenscheinlich ein steifes Bein hatte, die Treppenstufen emporstieg. Die Vordertür wurde geöffnet und das Trio von Belfords mürrisch dreinschauendem Butler rasch ins Haus geleitet. Bevor er die Tür abermals schloss, warf er dem Pöbel einen Blick abgrundtiefer Verachtung zu. Die Reporter ließen sich davon jedoch keineswegs abschrecken, sondern stürzten sich auf den Kutscher und fragten ihn nach den Namen seiner Fahrgäste und dem Zweck ihres Besuches. Statt zu antworten, hob der alte Mann seine Peitsche und schwang sie dro hend über ihren Köpfen. Sie sollten zurücktreten, verlangte er
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