Ophran 3 Die entflohene Braut
nicht, wie Sie beurteilen können, ob ich gut zielen kann oder nicht. “
„Wenn man so lange schießt wie ich, dann weiß man so etwas“, erklärte Henry selbstgefällig. „Ich kann sehen, wie ruhig und sicher Sie die Waffe halten und wie Ihr Blick mit dem Lauf verschmilzt. Bitten Sie den Käpt’n hier einfach, Ihnen ein Gewehr zu geben, dann können Sie jedem Schurken, der Ihnen Schwierigkeiten macht, ein Loch in den Schädel blasen. “
„Ich werde ihr kein Gewehr geben, Henry“, wiederholte Jack zum hundertsten Mal.
„Die Dinger sind zu laut und zu sperrig“, pflichtete Oliver bei. „Völlig ungeeignet für eine junge Dame. Alles, was sie braucht, ist ein klitzekleiner Dolch wie dieser hier. “ Er zog ein gefährlich scharfes Messer aus dem Stiefelschaft. „Schon hat sie nichts mehr zu befürchten! Hier, Mädchen! “ Er drückte Amelia die blitzende Klinge in die Hand. „Zeigen Sie dem Burschen, wie gut Sie es zu werfen gelernt haben. “
„Du hast ihr gezeigt, wie man ein Messer wirft? “ Jack war entsetzt.
„Jawohl, und sie hat sich als gelehrige Schülerin erwiesen“, entgegnete Oliver voller Stolz. „Sie hat viel schneller ein Gefühl dafür entwickelt als Sie. Los, Mädchen! “ Er nickte Amelia aufmunternd zu. „Zeigen Sie dem Jungen, was Sie können! “
Amelia schloss die Finger um den kühlen Messergriff, wandte sich dann einem Stapel Kisten zu, den Oliver und sie als behelfsmäßiges Ziel aufgetürmt hatten, und hob den Dolch an ihr rechtes Ohr. Dann trat sie nach vorn und schleuderte die Waffe mit aller Kraft auf ihr Ziel.
Oliver strahlte vor Stolz beim Anblick der Klinge, die genau im Zentrum der mittleren Kiste steckte. „Und das nach knapp zwei Tagen! Denken Sie nur, was das Mädchen alles treffen wird, wenn ich sie noch ein Weilchen länger unter meine Fittiche nehme! “
„Sie braucht nicht zu wissen, wie man ein Gewehr abfeuert oder ein Messer wirft“, verkündete Jack bestimmt.
„Warum nicht? “ Henry kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Sie haben gesagt, sie würde von gemeinen Schurken gejagt. “
„Diese gemeinen Schurken sind zufällig ihre nächsten Verwandten“, erklärte Jack. „Irgendwie glaube ich nicht, dass Miss Belford sie erdolchen oder erschießen möchte, falls sie sie finden. “
„Es schadet jedenfalls nicht, vorbereitet zu sein“, wandte Oliver ein.
„Wenn sie dabei jemanden umbringt, schon... “
„Sie haben völlig Recht, Oliver“, unterbrach Amelia. „Ich nehme zwar nicht an, dass ich irgendjemanden erstechen oder erschießen werde, doch ich habe Ihren Unterricht sehr genossen. Manchmal ist es gut, etwas nur um seiner selbst willen zu lernen, unabhängig davon, ob man meint, dieses Wissen könne einem eines Tages von Nutzen sein. “
Henry zog die Brauen zusammen. „Wirklich? “
„Ich habe nie etwas gelernt, was ich nicht irgendwann hätte gebrauchen können“, erwiderte Oliver nachdenklich.
„Aber Sie haben gewiss einige Dinge gelernt, von denen Sie nicht wussten, dass sie Ihnen eines Tages nützlich sein würden“, gab Amelia zu bedenken. „Als ich ein Kind war, beinhaltete mein täglicher Unterricht zum Beispiel alle möglichen Dinge, von denen ich sicher war, dass ich sie niemals brauchen würde. Sprachen wie Deutsch, Italienisch oder Latein, die kaum von Nutzen schienen, wo in New York doch jeder Englisch sprach, und Fächer wie Geschichte und Literatur, die entsetzlich langweilig waren, so wie meine Gouvernante sie unterrichtete. Doch am schlimmsten war mein Benimm-Unterricht. “
Oliver runzelte die Stirn. „Ihr was? “
„Unterricht, in dem gelehrt wird, wie eine Dame sitzt, steht und geht“, erklärte Amelia. „So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mir einfach nicht merken, den Kopf ständig hoch erhoben und den Rücken gerade zu halten. Also ließ meine Mutter einen scheußlichen Apparat anfertigen, den ich während des Unterrichts tragen musste. Es war ein langes Stahlrohr, das gegen mein Rückgrat drückte und an meinen Schultern und meiner Taille festgeschnallt war. Um meine Stirn war ein weiterer Gurt geschlungen, der meinen Kopf gegen das Rohr presste. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als mich stets kerzengerade zu halten. Wenn ich lesen sollte, musste ich das Buch in Augenhöhe heben, und ich musste lernen, an meinem Schreibtisch zu sitzen, ohne mich vornüber zu beugen. Das war natürlich entsetzlich unbequem, und ich hasste es, dieses Ding zu tragen. Oft habe ich geweint, wenn
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