Optimum 1
dass ich komme, aber das Stipendium hat sie, glaube ich, überzeugt.«
Frau Jansen schwieg einen Moment, und an einem leisen Kratzen merkte Rica, dass sie sich Notizen machte.
»Hast du deswegen versucht, dir das Leben zu nehmen?« Die Frage kam so plötzlich, dass Rica regelrecht zusammenzuckte. Sie erinnerte sich gut an die blassen Narben auf Jos Handgelenken, aber sie hätte nie gedacht, dass sie so früh damit angefangen hatte.
»Nein.« Die Antwort war nur ein Flüstern, und Jo fügte keine weitere Erklärung hinzu.
»Warum hast du es dann getan? Deine Eltern haben mir erzählt, es war kurz nach dem Test. Hat dich etwas beunruhigt? Hat dich vielleicht die Vorstellung, deine eigene Schule und deine Freunde zurücklassen zu müssen, verängstigt?«
»Ich habe keine Freunde.« Auch das wieder so leise, dass Rica die Lautstärke aufdrehen musste, um die Worte überhaupt zu verstehen.
»Was soll das heißen, keine Freunde? Was ist mit den Mädchen in deiner Klasse oder in deinem Sportverein?« Man hörte, wie einige Seiten umgeblättert wurden. »Hier steht, du spielst Fußball. Hast du denn keine Mannschaftskameradinnen, mit denen du ab und zu etwas unternimmst?«
Schweigen.
»Deine Eltern sagen, du bist oft unterwegs. Wohin gehst du denn, wenn du dich nicht mit Freunden triffst?«
»Ich laufe ein bisschen herum und sehe mir die Gegend an. Manchmal gehe ich auch ins Kino.« Sicherer Boden für Jo. Antworten, die sie sich schon lange überlegt hatte und sicher schon Dutzende Male ihren Eltern erzählt hatte.
»Ganz allein?«
»Ja.«
»Warum?«
Pause. Dann mit ein bisschen zitternder Stimme: »Die anderen verstehen einfach nicht, wie es ist.«
Wieder das leise Kratzen, als Frau Jansen sich etwas notierte. »Wie was ist? Was meinst du, Josefine?«
»Wie es ist, anders zu sein.«
»Glaubst du denn, dass du anders bist?«
»Nein, ich glaube es nicht. Ich weiß, dass ich anders bin. Ich bin … besser. In fast allem. Und manchmal …« Sie sprach nicht weiter. Ihre Stimme klang jetzt wieder nach dem verschüchterten kleinen Mädchen.
»Manchmal?« Frau Jansen sprach nun ganz sanft und leise. Verständnisvoll.
»Manchmal werde ich so wütend auf andere. So wütend, dass ich ihnen wehtun möchte. Richtig schlimm wehtun. Ich hab auch mal ein Messer mitgenommen in die Schule, weil ich gedacht habe, wenn einer noch mal eine blöde Bemerkung macht, dann … ich weiß nicht. Stattdessen hab ich dann mit dem Messer meinen Arm aufgeschnitten. Nicht am Handgelenk, weiter oben. Ich habe mal gehört, dass das irgendwie alles besser macht, aber bei mir hat es nicht geholfen. Jetzt habe ich nur die blöden Narben.«
Rica schluckte. Frau Jansen schwieg ebenfalls, offensichtlich mindestens genauso schockiert wie Rica.
»Muss ich jetzt in eine Klinik?« Jo hörte sich so an, als würde sie sich am liebsten in einem Mauseloch verkriechen und nie wieder rauskommen. Es dauerte trotzdem noch einen Moment, bis Frau Jansen sich wieder so weit im Griff hatte, dass sie eine Antwort geben konnte.
»Du musst in keine Klinik, Josefine. Dafür haben wir ja die Gespräche hier. Solange ich nicht sage, dass du in eine Klinik oder vielleicht Medikamente nehmen musst, passiert dir auch nichts. Da musst du keine Angst vor haben. Aber wir müssen darüber reden, was du da gerade gesagt hast. Dass du gern anderen Mitschülern wehtun möchtest, sie sogar verletzen würdest. Deswegen werden wir ein paar weitere Sitzungen ansetzen. Wir müssen sehen, dass wir diese Aggressionen in den Griff bekommen, was meinst du? Du willst doch eigentlich auch niemandem wehtun, oder?«
Jo schwieg. Das war wohl die falsche Frage gewesen.
»Wir reden noch einmal darüber, wenn wir uns das nächste Mal treffen, ja, Josefine?«
Wieder eine lange Schweigepause. Dann Jos ganz leise Stimme. »Sie wissen ja noch nicht alles, Frau Jansen.«
Die Aufnahme war zu Ende. Eine Zeit lang saß Rica nur vor dem Bildschirm und starrte die lange Liste mit weiteren Dateien an. So viele. Sie sah auf die Uhr in der rechten unteren Ecke des Bildschirms. Sie hatte vielleicht noch Zeit für eine Aufnahme, bevor ihre Mutter anfing, sich Sorgen zu machen. Aber sie wusste nicht, wie sie vorgehen sollte. Diese erste Sitzung von Jo und Frau Jansen mochte ja interessant gewesen sein, in gewisser Weise sogar aufschlussreich, aber sie enthielt natürlich nichts, was irgendein Motiv geliefert hätte, das Frau Jansen mit Jos Tod in Verbindung brachte. Wie denn auch, dieses Gespräch
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