Optimum 1
Eltern angerufen habe, sagten sie mir, er sei im Sanatorium und es stehe noch nicht fest, für wie lange. Ich habe es noch ein paarmal probiert, aber er war nie da, und irgendwann hat man mir verboten, seine Eltern weiter zu belästigen.« Robin verstummte und versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen.
Ricas Herz schlug ein bisschen schneller, aber sie konnte nicht sagen, ob vor Aufregung oder vor Mitleid. »War er ein Freund von dir?« Eigentlich war die Frage unnötig, aber sie spürte, dass Robin noch mehr zu sagen hatte.
»Ein sehr guter sogar«, antwortete Robin. »Wir waren früher Nachbarn und kannten uns seit dem Kindergarten. Wir sind zusammen hierhergekommen und waren so froh, dass die Schule uns beide aufgenommen hat, nachdem sich unsere Eltern dafür entschieden hatten, uns hierherzuschicken. Als ich in den Sommerferien nach Felix’ Verschwinden wieder nach Hause gekommen bin, waren seine Eltern weggezogen. Meine Mutter konnte mir nicht sagen, wohin. Sie wusste überhaupt nichts über den Vorfall. Oder sie wollte es nicht sagen. Mir kam es so vor, als hätte sie vor irgendetwas Angst.«
Rica drückte ganz leicht Robins Finger. Er reagierte gar nicht darauf. »Ich möchte nicht, dass du auch noch verschwindest«, flüsterte er.
Aber wenn ich nicht auch verschwinden soll, ist es dann nicht noch viel wichtiger, dass ich herausfinde, was hier wirklich vorgeht?, dachte Rica. »Ich verschwinde schon nicht. Ich glaube, die Leute, die hier verschwinden, die gehören zu einer ganz anderen Gruppe. Ich bin kein Genie. Ich bin niemand Besonderes. Niemand kümmert sich darum, wie es mir geht und was ich tue. Ich glaube bei euch, also bei den richtig guten Schülern, ist das anders.«
Mit einem plötzlichen Ruck entriss er ihr seine Hand und sprang auf. Auf einmal war er wieder hochrot im Gesicht, und dieses Mal nicht, weil er sich genierte. »Du kapierst es nicht, oder?« Er schrie jetzt so laut, dass man ihn bestimmt noch bis zum Schulhaus hören konnte. »Oder du willst es nicht verstehen. Gerade weil du nicht zu uns gehörst, bist du in Gefahr. Sie werden mich vielleicht nicht umbringen, sie werden Eliza nichts antun, und vielleicht kommt auch Torben mit einem blauen Auge davon, obwohl sie ihn abgeholt haben. Aber mit dir werden sie nicht so zimperlich sein. Ich will nicht eines Tages um eine Ecke gehen und deine Leiche finden.« Er verstummte und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann ballte er hilflos seine Hände zu Fäusten und löste sie wieder.
Rica starrte ihn an. Seine heftige Reaktion überraschte sie vollkommen. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie zu verblüfft, um überhaupt etwas sagen zu können. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Jo ist umgebracht worden«, begann sie ganz ruhig. »Und sie gehörte auch zu euch, oder?« Rica fixierte Robin mit einem eindringlichen Blick, und sie fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen nicht unsicher, unglücklich oder verzweifelt. Es war, als hätte das Gespräch mit Robin, vor allem sein Wutausbruch, einiges geklärt und sie nur wieder zurück zu der Überzeugung gebracht, dass sie etwas unternehmen musste.
Robin starrte sie ungläubig an. Er rang offensichtlich nach Worten. Doch dann sackte er plötzlich in sich zusammen. Er ließ die Schultern sinken und starrte auf den Boden. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, dann wandte er sich einfach nur ab und ging langsam in Richtung Schulhaus zurück.
Kapitel sechzehn
Überfall
Rica kam viel zu spät und völlig außer Atem zum Nachmittagsunterricht. Das Klassenzimmer, in dem englische Literatur gelehrt wurde, war schon voll besetzt, und Frau Marksdorf hatte bereits mit der Stunde angefangen, als Rica hereinplatzte. Alle Gesichter drehten sich zu ihr um. Selbst Eliza, die sich wieder zu Sophia gesetzt hatte, blickte kurz auf, und die Frage stand ihr nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben.
Doch Rica achtete nicht auf sie, ließ sich auf ihren früheren Platz fallen, murmelte eine Entschuldigung und zerrte ihr Englischbuch aus der Schultasche.
Die Englischlehrerin schien nicht erfreut. Normalerweise war sie recht locker, aber heute war sie wohl ziemlich mies drauf. »Wenn wir dann zu Shakespeare zurückkehren könnten und Fräulein Lentz mir vorher noch kurz erklärt, warum sie erst jetzt aufzutauchen meint«, keifte sie.
»Ich hatte … ich war …«, stammelte Rica, und ihr wollte keine richtige Ausrede einfallen. »Ich hab die Zeit
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