OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
halben Jahrtausend von christlichen Rittern zerstört worden war. Amos verstandbis heute nicht, wie das zugegangen war, aber Karol musste über mächtige magische Kräfte verfügt haben: Er hatte sie zu dieser Stätte geführt – dem »sehenden See« auf der Heidenkuppe –, die gleichzeitig der fernen Vergangenheit und ihrer heutigen Gegenwart anzugehören schien. Dort hatte Karol die Geister, die in alten Zeiten in diesem Heiligtum verehrt worden waren, angefleht, ihn sterben zu lassen. Aus Kummer über den Tod seiner Frau, die von den Inquisitoren umgebracht worden war, hatte auch er nicht länger leben mögen. Die Geister hatten seine Bitte erfüllt und tags darauf hatten die Hüter des heiligen Hains Karols Leichnam nach uralter heidnischer Sitte bestattet.
Das alles war schon verwirrend genug, doch durch das »zusammengeschnürte Bündel«, das die Bücherjäger aus Kronus’ Haus weggeschleppt hatten, wurde es noch sehr viel ärger. Wenn nämlich ein Leichnam nach heidnischer Art in einem hohlen Baumstamm bestattet worden und bis auf die Knochen zerfallen war – dann blieb ja gerade so ein Holzkerl übrig, wie die Bücherjäger ihn angeblich mitgenommen hatten: ein Baumstamm mit Knochen darin und einem Totenkopf, der oben aus dem ausgehöhlten Stamm hervorsah.
Amos schüttelte sich innerlich. Warum nur hatte Valentin Kronus ein so schauerliches Etwas in seinem Haus aufbewahrt? Und weshalb glaubte der Inquisitor Cellari angeblich, dass sich Kronus durch einen teuflischen Zauber in dieses Holz-und-Knochen-Ding verwandelt hätte – und dass er ihn auf irgendeine Weise zwingen könnte, wieder er selbst zu werden? Schon mehr als einmal hatte Amos von Ritualen der »Teufelsaustreibung« erzählen gehört – christliche Priester sangen und schrien irgendwelche Formeln über einer bedauernswerten Person, die angeblich von Dämonen besessen war, und sie setzten dieses Ritual so lange fort, bis der Höllengeist es nicht länger aushielt und aus dem Leib des Besessenen floh. Und in gar nicht so seltenen Fällen war die Person, aus der der Teufel verscheucht worden war, anschließend tot oder jedenfalls nicht mehr bei Verstand.
Amos wusste mittlerweile selbst kaum mehr, wo ihm der Kopf stand. Konnte es vielleicht doch sein, dass sich Kronus in allerhöchster Not in so ein »Knochenmanderl« verwandelt hatte? Und seitdem bearbeiteten ihn Cellari und seine Folterknechte mit Weihrauch und Austreibungsformeln, um ihn zur Rückverwandlung in seine gewöhnliche Gestalt zu zwingen? Immerhin hatte Amos auch einmal beobachtet, wie Kronus sich allem Anschein nach mit einem Geist unterhalten hatte, der in seiner Schlafkammer aus der Wand hervorgewabert war. Und müsste es einem Gelehrten wie Kronus, der alle magischen, mythischen und alchemistischen Schriften dieser Erde gelesen und ihre Essenz in sein
Buch der Geister
überführt hatte – müsste es einem so mächtigen Magier nicht auch möglich sein, sich selbst notfalls in ein solches Gebilde aus Holz und Knochen zu verzaubern?
Schließlich riss ihn Klara aus seinen Grübeleien. Ich fühle, dass du bekümmert und voller Sorgen bist , sagte sie auf dem Gedankenweg. Bedrückt dich der Gedanke, Johannes nach Nürnberg zu schicken, so sehr?
Ich habe über Kronus nachgedacht , gab Amos zurück, und über diesen gräulichen Holzkerl, von dem Johannes erzählt hat . Er unterbrach sich und grübelte nochmals einige Augenblicke lang vor sich hin. Eigentlich hast du recht , sagte er dann, wir müssen endlich in Erfahrung bringen, ob Mutter Sophia und Kronus dort im Inquisitionskerker sind – und Johannes kann es für uns herausfinden. Fragen wir ihn also, was er davon hält .
Er unterbrach sich erneut und sah über die Schulter zurück – Johannes’ Muli stand wie festgewurzelt am Wegrand und ließ sich das saftige Ufergras schmecken. Wie Johannes auch schimpfte und sein Reittier anzutreiben versuchte – es rupfte einfach das nächste Grasbüschel heraus und zerkaute es genüsslich.
»Aber vorher musst du ihm beibringen, wie man ein Maultier reitet«, fügte Amos hinzu. »Und sollten wir nicht auch die Gabe der Gedankenmagie erst noch in ihm erwecken – damit er unsGedankenbotschaften schicken kann, während er da im Inquisitionshaus herumschleicht?«
Klara drehte sich zu ihm herum, soweit das ging, wenn man im Sattel saß und auf einem zwei Fuß schmalen Uferpfad neben einem reißenden Wildbach entlangritt. »So machen wir es, mein Auserwählter – und wenn Johannes
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