Ordnung ist nur das halbe Leben
schlucken.
»Ja, es gibt da doch einige ernsthafte Schwierigkeiten, weil sie ja nur ein Kind haben konnten. Alle ihre Erwartungen sind auf mich gerichtet, und ich fühle mich deswegen schon sehr stark unter Druck.«
Ich wunderte mich. Ich hatte noch nie gemerkt, dass er sich irgendwie bedrängt fühlte.
»Das hätte ich ja echt nicht gedacht«, sagte ich. Und dann fiel mir was ein, und Jens musste meinen Gedankengang an meiner entsetzten Miene abgelesen haben.
»Keine Sorge, Möhrchen«, beruhigte er mich, »du musst nicht mit. Das ist eine Sache zwischen meinen Eltern und mir.«
»Gut«, sagte ich erleichtert. Es wäre mir doch sehr merkwürdig vorgekommen, diesen Leuten, mit denen ich mich noch nie über was anderes als über das Wetter, die Rasenpflege oder über Angelegenheiten der Haushaltsführung unterhalten hatte, im Rahmen einer Therapiesitzung zu begegnen.
»Aber ich finde es super, dass ihr das macht. Und es wäre toll, wenn ihr eure Differenzen bis zur Hochzeit geklärt hättet.« Dann würden sie mir vielleicht auch endlich das Du anbieten.
Die Therapie fing in der übernächsten Woche an. Jede Woche Mittwoch – an Jens’ freiem Nachmittag – ging er mit seinen Eltern zu einer Therapeutin in Leverkusen. Jens hatte mir gesagt, ich solle seine Eltern auf keinen Fall darauf ansprechen, weil das für sie sehr unangenehm wäre, wenn sie wüssten, dass ich es weiß. Also versprach ich, schön brav meinen Mund zu halten. Ehrlich gesagt hatte ich auch nicht so ein riesiges Interesse an dem Knatsch in anderen Familien. Ich hatte mit meinen Eltern schon genug am Hals.
5
»Puna«, rief meine Mutter, als wir uns nach der Vermählung von Anja und Daniel im Vorraum versammelt hatten.
»Moni«, korrigierte ich sie.
»Ja, sicher«, sagte mein Vater. »Komm her, Schatz!« Er nahm mich in den Arm und drückte mich. »Cleveres Mädchen.«
»Ja, wirklich«, bekräftigte meine Mutter. »Danke schön.«
»Was? Wieso?«
»Wegen gestern!«
Mit wachsendem Entsetzen lauschte ich ihren Aussagen.
»Weil du diesen Bogert dazu gezwungen hast, sich der Kritik der Öffentlichkeit zu stellen.«
»Jetzt kann er sich nicht mehr hinter seiner Anonymität verstecken!«
»Dieses feige Schwein.«
»Und wie geschickt du das gemacht hast«, rief mein Vater. »Der ganze Bürgerverein ist begeistert von deiner Aktion!«
Geschickt gemacht? Bürgerverein begeistert ?
»Habt ihr denen etwa erzählt, dass ich eure Tochter bin?«, fragte ich entsetzt.
»Natürlich!« Meine Mutter streichelte meine Wange, während ich sie bestürzt anstarrte. Aber niemand durfte das erfahren, wollte ich schreien, doch die Wörter kamen mir nicht über die Lippen.
Meine Mutter fragte: »Was ist denn los? Stimmt was nicht, Moni?«
Ihr Gesicht leuchtete vor Zuneigung, mein Vater sah mich an, als wäre ich der Lotto-Jackpot, den er gerade geknackt hätte. Sie waren stolz auf mich, schoss es mir verblüfft durch den Kopf. Und da sie mich so zärtlich und liebevoll anschauten, konnte ich nun schlecht sagen, dass der ganze Sinn und Zweck dieser Aktion darin bestanden hatte, unsere Verwandtschaft zu leugnen und jedwede Verbindung zu ihnen abzustreiten.
»Ich freue mich doch, dass ich euch helfen konnte«, sagte ich geschmeichelt. »Aber …«
»Nicht uns! Der Umwelt!«, unterbrach mein Vater lachend. »Aber die braucht natürlich Leute wie uns, die sich für sie einsetzen.«
»Ja«, sagte ich. »Und das finde ich auch wirklich toll, dass ihr das macht. Aber ich …«
»Na ja. Wir leisten nur einen bescheidenen Beitrag«, rief meine Mutter dazwischen.
»Na, so bescheiden ist er nun auch wieder nicht«, dröhnte mein Vater. »Hey, Hannes, komm mal rüber.« Er winkte meinem Bruder, der unbeteiligt auf einem Stuhl hing und sich um eine coole Miene bemühte, was ihm um Haaresbreite nicht gelang. Hannes stand auf und schleppte seinen verkaterten Körper zu uns.
»Hast du schon gehört, dass Moni uns bei unserer Flughafeninitiative hilft? Das wäre doch toll, wenn du dich auch mal für etwas engagieren würdest.«
»Och nöö«, sagte Hannes. »Für so was habe ich keine Zeit.«
»Wieso nicht?«, fragte meine Mutter schnell. »Was hast du denn so Wichtiges zu tun?«
Aber mein Bruder ging gar nicht drauf ein, sondern wandte sich an mich: »Derbe, dass du das machst, Moni. Hätte ich nicht von dir gedacht.«
Ich auch nicht.
»Na ja, es ist eher so, dass ich undercover mitarbeite«, sagte ich leise. »Es sollte besser niemand davon
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