Orphan 2 Juwel meines Herzens
zumindest was Verbrechen betraf. Und wenn er im vorliegenden Fall die Fakten verglich, schien zwar alles auf Lord Bryden als Täter hinzuweisen, allerdings passten die einzelnen Puzzlestücke nicht hundertprozentig zusammen. So hatte der Earl zum Beispiel Recht, dass es eigentlich keinerlei Grund gegeben hatte, auf ihn - Turner - zu schießen. Immerhin war er zu diesem Zeitpunkt bereits bewusstlos gewesen. Turner war eigentlich immer stolz auf seine Menschenkenntnis gewesen. Und genau die ließ ihn an seinen bisherigen Schlüssen zweifeln.
Etwas flüsterte ihm immer wieder zu, dass Lord Bryden niemanden für ein paar teure Steinchen erschießen würde.
„Wenn Miss Kent also nicht erwartet, dass ich ihren Freund laufen lasse, was genau will sie dann? “
Erstaunt schaute Annie zu ihm auf. Er hatte die ganze Zeit so finster dreingeblickt, während sie nebeneinander hergingen. Eigentlich war sie der Meinung gewesen, dass ihre Worte ihn restlos verärgert hatten. Doch offenbar hatte er lediglich nachgedacht. Es gefiel ihr, dass er erst überlegte, bevor er sprach. Die meisten anderen Kerle, die sie kannte, waren immer entweder sofort vor Wut in die Luft gegangen oder hatten sie mit ihren Lüsten überfallen. Nur ihren Verstand benutzten die nie. Sie selbst war weder klug noch gebildet wie der Inspector, was sie in seiner Gegenwart verunsicherte. Aber er gab ihr nicht das Gefühl, dass sie deshalb unter ihm stand.
Natürlich konnte einer von der Polizei nie ernsthafte Absichten bei einer Hure wie ihr hegen - wenn sie auch gerade versuchte, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Trotzdem brachte er ihr Respekt entgegen und hatte noch nie irgendeinen Annäherungsversuch unternommen. Im Gegenteil, er behandelte sie wie eine richtige Dame, bot ihr den Arm und spazierte mit ihr durch die Straßen, wo ganz London die beiden zusammen sehen konnte.
Selbstverständlich war er nur bereit gewesen, mit ihr zu sprechen, weil Miss Kent sie geschickt hatte. Er vermutete eben, dass die mehr über Lord Bryden und den Schatten wusste, als sie zugab. Dennoch war es einfach wunderbar, hier mit ihm spazieren zu gehen, die Hand leicht auf seinem Arm. Besonders weil es wirklich den Eindruck machte, als ob es ihm wichtig wäre, was sie zu sagen hatte.
„Wir müssen dem Schatten eine Falle stellen“, verkündete sie. „Und zwar schnell. Wenn der echte Dieb glaubt, Lord Bryden wird demnächst verurteilt, macht er sich vielleicht bald aus dem Staub und verschwindet aus London - möglicherweise sogar für immer. “
„Falls tatsächlich jemand anders der Täter ist, lehnt er sich aber auch möglicherweise beruhigt zurück und wartet entspannt ab, bis Bryden hängt. “
„Ganz egal, jedenfalls freut der Kerl sich des Lebens, während Seine Lordschaft für ihn baumelt“, entgegnete Annie energisch und schüttelte den Kopf. „Das darf doch einfach nicht sein! Er muss glauben, man hätte Lord Bryden freigelassen. Dann wird der Schatten bestimmt etwas unternehmen. Miss Kent hat da einen Vorschlag für Sie, der den Schatten garantiert aus seinem Versteck locken wird. Sie müssen nur dafür sorgen, dass genügend Polizisten da sind, damit wir ihn schnappen. “
Turner nickte und neigte den Kopf zu ihr, damit niemand ihr Gespräch zufällig mit anhören konnte. Ein sanfter Hauch von Orangenwasser stieg zu ihm auf. Ein so dezenter Duft schien gar nicht zu einer erfahrenen jungen Frau wie Annie passen zu wollen. Offenbar hatte Miss Kent tatsächlich Erfolg damit, aus ihrem Schützling einen neuen Menschen zu machen.
Das hoffte er jedenfalls inständig.
„Erzählen Sie weiter“, flüsterte er und betete, dass er nicht gerade den größten Fehler seines ganzen Lebens beging.
15. KAPITEL
Daily Telegraph 28. Juli 1875
LORD BRYDEN AUF FREIEM FUSS
Lord Bryden wurde heute in den frühen Morgenstunden aus Newgate entlassen. Seine Lordschaft hatte im Verdacht gestanden, in die Diebstähle verwickelt zu sein, die man allgemein dem so genannten Schatten zuschreibt. Inspector Turner von Scotland Yard teilte der Presse heute mit, dass Lord Bryden zwar bei Lord Whitaker verhaftet wurde, wo er sich aus unbekannten Gründen aufhielt. Dennoch ist die Polizei inzwischen überzeugt, dass der Earl nicht der gesuchte Räuber und Mörder ist, der London seit einigen Monaten mit seinen Taten in Atem hält. Es heißt, dass Lord Bryden Scotland Yard nach seiner Verhaftung wichtige Einzelheiten über die tatsächliche Identität des Schatten mitgeteilt habe, die
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