Orphan 2 Juwel meines Herzens
ihm? Immerhin war er gerade dabei, das perfekte Verbrechen zu begehen. Jeder seiner Diebstähle davor war doch nur eine kleine Kostprobe für das gewesen, was er gleich vollbringen würde. Und da war er heute nicht einmal in der Lage, diese kleine Übung in Selbstbeherrschung zu meistern! Ob das eine Warnung war? Sollte ihm damit zu verstehen gegeben werden, er wäre außer Form und zöge sich besser zurück? Vielleicht war der Kampf mit Bryden vor einigen Nächten ja doch ein Zeichen dafür gewesen, dass das Glück ihn verlassen hatte.
Hör auf mit dem Unsinn, schalt er sich in Gedanken. Er war noch immer ganz der Alte. Jahre der Verbitterung und des Zorns hatten ihn exzellent auf die Aufgabe dieser Nacht vorbereitet. Er besaß eine Stärke und Entschlossenheit, wie nur Menschen sie kannten, die im Leben schweres Leid erfahren hatten. Ihn jedenfalls hatte es dazu befähigt, sich von einem kleinen Niemand in eine Person mit Stil und Position zu verwandeln. So gesehen hatte es sich auf völlig unerwartete Weise fast bezahlt gemacht, was seiner Familie widerfahren war.
Immerhin wurde es einem viel leichter, die eigenen Wurzeln zu kappen, wenn sie in verbrannter Erde steckten.
Da, ein Geräusch! Angestrengt lauschte er. Von seinem Versteck im Gästezimmer konnte er gut hören, was im ganzen Haus vorging. Doch was auch immer es gewesen sein mochte, das Geräusch wiederholte sich nicht. Endlich entspannte er sich wieder und ließ die Schulterblätter zurück auf den harten Holzboden sinken.
Er hatte den ganzen Abend damit verbracht, alles zu belauschen: Lord und Lady Whitakers Unterhaltung darüber, was sie für ihre Reise nach Paris alles einpacken sollten, die eiligen Schritte der gehetzten Dienstboten, die bald hierhin, bald dahin liefen - nichts war ihm entgangen. Schließlich war es im Haus ganz still geworden, nachdem man sich allgemein eine gute Nacht gewünscht hatte. Türen schlossen sich, Wasser lief in die Waschschüsseln, Betten quietschten. Das sanfte, warme Licht unter der Tür verlosch. Und immer noch wartete er. Bestimmt schon seit zwei Stunden, wie er vermutete. Erst jetzt konnte er sich sicher sein, dass außer ihm alles tief und fest schlief.
So hoffentlich auch Bryden...
Er spielte mit den Fingern, öffnete und schloss die Fäuste und überlegte, was in dieser Nacht alles geschehen konnte. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder brach er ins Arbeitszimmer des Hausherrn ein, stahl den Stern von Persien und entkam mit einem der teuersten Diamanten von ganz Europa in der Tasche... Dann konnte er sich über den Verlauf dieser Nacht wahrlich nicht beschweren. Sein Vermögen hätte sich dann innerhalb weniger Stunden vervielfacht. Und der Schatten konnte jederzeit wieder zuschlagen, wenn es notwendig war oder es ihm amüsant erschien.
Er seufzte. Nein, die Vorstellung, sich wieder stunden lang in dunklen engen Behältnissen zu verbergen, bis er endlich hinaus durfte, um ein paar glitzernde Steinchen einzustecken, wirkte nicht mehr allzu verlockend auf ihn - wenn nicht gar eher qualvoll. Vielleicht war er heute auch einfach schlechter Laune. Kein Wunder, hier unter dem Bett war es unglaublich heiß und eng. Nein, es war wohl eher die Tatsache, dass jeder Diebstahl weniger aufregend gewesen war als der letzte, trotz der Gefahr und des ungeheuren Werts der Juwelen. Wenn es allein nach ihm ginge, dürfte dies gern die letzte Nacht des Schattens werden.
Nein, jetzt hielt er es nicht mehr aus. Er rutschte unter dem Bett hervor. Nachdem er sich kurz gestreckt hatte, griff er unter das Gestell und holte ein Bündel mit Dietrichen und Brechstangen hervor: das Handwerkszeug seines Gewerbes. Safes aufzubrechen gehörte nicht eben zu seinen Lieblingsaufgaben, aber auch diese Kunst konnte man erlernen wie jede andere. Und er konnte es darin mit jedem Kollegen aufnehmen - wenn er nicht sogar ein wenig besser war. Zumindest aber konnte er sich das beste Werkzeug leisten. Außerdem verstand er, den Schwierigkeitsgrad eines solchen Aufbruchs richtig einzuschätzen. Wenn es in einer Viertelstunde nicht zu schaffen war, fing er erst gar nicht damit an. Irgendwo im Haus lag meist immer noch eine leicht zugängliche Schatulle herum, mit dem Schmuck, den die Hausherrin gerade erst getragen hatte und der noch nicht wieder seinen Weg in den Safe gefunden hatte. Allerdings stand nicht ernsthaft zu erwarten, dass Lord Whitaker eine solche Nachlässigkeit bei einem Schatz wie dem Stern von Persien gestattet
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