orwell,_george_-_tage_in_burma
plötzlich die Nerven verloren und begann zu weinen. Der Steinwurf hatte sie verletzt. Zu Florys Erstaunen klammerte sie sich plötzlich fest an seinen Arm. Selbst in diesem Augenblick drehte es ihm das Herz um. Er hatte die Szene fast gleichgültig beobachtet - zwar benommen von de m Lärm, aber nicht sehr erschrocken. Er fand es immer schwer zu glauben, daß Orientalen wirklich gefährlich werden könnten. Erst als er Elizabeths Hand auf seinem Arm fühlte, begriff er den Ernst der Situation.
»Ach, Mr. Flory, bitte, bitte, fällt Ihnen de nn nichts ein? Sicher, sicher! Alles lieber, als diese furchtbaren Menschen hier hereinlassen!«
»Wenn nur einer von uns zur Polizei gelangen könnte!« stöhnte Mr. Macgregor. »Ein britischer Offizier, der sie führt! Schlimmstenfalls muß ich eben selbst versuchen, durchzukommen.«
»Sei doch kein Idiot! Kriegst nur den Hals durchgeschnitten!« schrie Ellis. »Ich werde gehen, wenn es wirklich so aussieht, als ob sie hier eindringen. Aber ach, von solchen Schweinen getötet zu werden! Wie wütend würde mich das mache n! Und zu denken, daß wir die ganze verdammte Menge abmurksen könnten, wenn wir nur die Polizei hier hätten!«
»Könnte nicht jemand am Flußufer entlanggehen?« rief Flory in Verzweiflung.
»Hoffnungslos! Sie rennen zu Hunderten hin und her. Wir sind abgeschnitten - auf drei Seiten die Burmanen und auf der vierten der Fluß!«
»Der Fluß!«
Eine dieser verblüffenden Ideen, die man einfach übersieht, weil sie so naheliegend sind, war ihm aufgeblitzt.
»Der Fluß! Natürlich! Wir können zur Polizei durchkommen - nichts leichter als das! Versteht ihr nicht?«
»Wie?«
»Nun, den Fluß hinunter - im Wasser! Schwimmen!« »Mann, du bist gut!« rief Ellis und gab Flory einen Schlag auf
die Schulter. Elizabeth drückte seinen Arm und tanzte tatsächlich ein paar Schritte vor Freude. »Ich tu’s, wenn ihr wollt«, rief Ellis, aber Flory schüttelte den Kopf. Er hatte schon angefangen, die Schuhe auszuziehen. Offenbar war keine Zeit zu verlieren. Die Burmanen hatten sich bisher wie Narren benommen, aber niemand konnte sagen, was geschehen würde, wenn es ihnen gelang, hier einzubrechen. Der Butler, der seinen ersten Schreck überwunden hatte, schickte sich an, das zum Rasen hinausgehende Fenster aufzumachen, und blickte verstohlen hinaus. Kaum zwanzig Burmanen waren auf dem Rasen. Sie hatten die Rückseite des Clubs unbewacht gelassen, in der Annahme, der Fluß würde jeden Rückzug abschneiden.
»Den Rasen runter, so schnell du kannst!« schrie Ellis Flory ins Ohr. »Sie werden sich schon zerstreuen, wenn sie dich sehen.«
»Die Polizei soll sofort das F euer eröffnen!« rief Mr. Macgregor von der anderen Seite. »Du hast meine Vollmacht.«
»Und sag ihnen, sie sollen tief halten. Nicht über die Köpfe weg feuern! Tödliche Schüsse! Am besten in den Bauch!«
Flory sprang von der Veranda, verletzte sich die Füße a uf dem harten Boden und war mit sechs Sätzen am Flußufer. Wie Ellis gesagt hatte, wichen die Burmanen für einen Augenblick zurück, als sie ihn herunterspringen sahen. Ein paar Steine wurden ihm nachgeworfen, aber keiner verfolgte ihn - sie glaubten zweifellos, daß er nur zu fliehen versuche, und in dem klaren Mondlicht konnten sie sehen, daß es nicht Ellis war. Im nächsten Moment hatte er sich durchs Gebüsch geschlagen und war im Wasser.
Er sank tief unter, und der gräßliche Flußschlamm nahm ihn auf und sog ihn knietief ein, so daß er mehrere Sekunden brauchte, um sich zu befreien. Als er hochkam, schwappte ihm ein lauwarmer Schaum wie der Schaum auf Bier um die Lippen, und irgend etwas Schwammiges war ihm in den Hals gekommen und drohte ihn zu ersticken. Es war ein Zweig von einer Wasserhyazinthe. Er vermochte ihn auszuspucken und sah, daß die starke Strömung ihn schon zwanzig Meter weit getragen hatte. Burmanen rannten schreiend ziemlich ziellos am Ufer auf und ab. Mit seinen Augen auf der Höhe des Wassersp iegels konnte Flory die den Club belagernde Menge nicht sehen; aber er konnte ihr tiefes, teuflisches Gebrüll hören, das hier noch lauter klang als an Land. Als er auf der Höhe der Militärpolizei war, war kaum noch jemand am Ufer zu sehen. Er brachte es fe rtig, sich aus der Strömung herauszukämpfen und durch den Schlamm zu tappen, der ihm seinen linken Strumpf vom Fuß sog. Ein Stückchen uferabwärts saßen zwei alte Männer an einem Zaun und spitzten Zaunpfähle an, als hätte im Umkreis von hundert
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