orwell,_george_-_tage_in_burma
er sich nach England. Das Schiff rollte westwärts über Wasserwüsten wie grobgehämmertes Silber, dahinter der winterliche Passatwind. Florys dünnes Blut belebte sich durch das gute Essen und die Seeluft. Und ihm fiel ein - etwas, was er in der stagnierenden Luft von Burma tatsächlich vergessen hatte - , daß er noch jung genug war, um wieder von vorn anzufangen. Er würde ein Jahr in zivilisierter Gesellschaft leben, er würde ein Mädchen finden, dem sein Muttermal nichts ausmachte - ein zivilisiertes Mädchen, keine Pukka- Memsahib - , und er würde sie heiraten und noch zehn, fünfzehn Jahre in Burma aushalten. Dann würden sie sich zur Ruhe setzen - er würde um die Zeit vielleicht zwölf- bis fünfzehnt ausend Pfund schwer sein. Sie würden ein Häuschen auf dem Lande kaufen, würden sich mit ihren Kindern und Freunden, Büchern und Tieren umgeben. Sie würden für immer von der Atmosphäre der Pukka- Sahibs befreit sein. Er würde Burma vergessen, dieses grauenha fte Land, das ihn um ein Haar zugrunde gerichtet hätte.
Als er in Colombo ankam, fand er ein Telegramm vor. Drei Männer in seiner Firma waren plötzlich an Schwarzwasserfieber gestorben. Die Firma bedauerte, aber er möchte bitte sofort nach Rangun zurückkommen. Er würde seinen Urlaub bei der nächstmöglichen Gelegenheit nehmen können.
Flory nahm das nächste Schiff nach Rangun, sein Pech verfluchend, und fuhr mit dem Zug zu seiner Station zurück. Er war damals nicht in Kyauktada, sondern in einer anderen Stadt in Oberburma. Alle Diener erwarteten ihn auf dem Bahnsteig. Er hatte sie en bloc seinem Nachfolger übergeben, der gestorben war. Es war so verrückt, ihre vertrauten Gesichter wiederzusehen! Noch vor zehn Tagen war er auf dem Weg nach England gewesen, hatte sich schon in England gesehen; und nun zurück in die alte schale Umgebung mit den nackten schwarzen Kulis, die sich um das Gepäck zankten, und auf der Straße ein Burmane, der seine Ochsen anschrie.
Die Diener umdrängten ihn, ein Kreis von freundlichen braunen Gesichtern, und brachten ihm Geschenke. Ko S’la hatte ihm ein Sambarfell gebracht, die Inder Bonbons und eine Girlande von Ringelblumen, Ba Pe, damals noch ein kleiner Junge, ein Eichhörnchen in einem Rohrkäfig. Ochsenkarren warteten auf das Gepäck. Flory ging zu seinem Haus hinauf, er sah lächerlich aus mit der um seinen Hals baumelnden Girlande. Das Licht des Kaltwetternachmittags war gelb und freundlich. Am Tor schnitt ein alter Inder mit erdfarbener Haut mit einer winzigen Sichel das Gras. Die Fra uen des Kochs und des Mali knieten vor den Dienstbotenkammern und mahlten Currybrei auf der Steinscheibe.
Etwas drehte Flory das Herz um. Es war einer jener Augenblicke, wenn man sich einer großen Veränderung und Verschlechterung in seinem Leben bewußt wird. Denn er war sich plötzlich darüber klargeworden, daß er im Grunde seines Herzens froh war, zurückzukehren. Dieses Land, das er haßte, war jetzt sein Heimatland, sein Zuhause. Er hatte hier zehn Jahre gewohnt, und jedes Stückchen seines Körpers war aus burmanischem Boden gebildet. Szenen wie diese - das fahle Abendlicht, der Gras schneidende alte Inder, das Quietschen der Karrenräder, der Flug der Silberreiher - alles war heimatlicher für ihn als England. Er war in einem fremden Land tief verwurzelt, vielleicht am allertiefsten.
Seitdem hatte er sich nicht einmal um Heimaturlaub beworben. Sein Vater war gestorben, dann seine Mutter; und seine Schwestern, unangenehme Frauen mit Pferdegesichtern, die er nie gemocht hatte, hatten geheiratet, und er hatte fast den Kontakt mit ihnen verloren. Jetzt band ihn nichts mehr an Europa außer den Büchern. Denn ihm war klargeworden, daß nur das Zurückgehen nach England kein Heilmittel für die Einsamkeit war; er hatte das besondere Wesen der Hölle begriffen, die für Anglo- Inder vorbehalten ist. Ach, die armen, gelangweilten Wracks in Bath und Cheltenham! Diese grabähnlichen Pensionen, in denen Anglo- Inder in allen Stadien des Verfalls herumsaßen, die alle davon redeten und redeten, was damals im Jahre ‘88 in Boggleywalah gewesen war! Die armen Teufel, sie wissen, was es heißt, sein Herz in einem fremden und verhaßten Lande gelassen zu haben. Es gab, das sah er deutlich, nur einen Ausweg. Jemanden finden, der sein Leben in Burma teilen würde - aber es wirklich teilen, sein inneres, geheimes Leben mit ihm teilen und von Burma dieselben Erinnerungen mitnehmen, die er mitnahm. Jemand, der Burma so
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