orwell,_george_-_tage_in_burma
Außer halb der wissenschaftlichen Dienststellen - die Forstabteilung, die Abteilung für öffentliche Arbeiten und dergleichen - besteht für einen britischen Beamten in Indien keine besondere Notwendigkeit, in seiner Arbeit tüchtig zu sein. Wenige von ihnen arbeiten so schwer oder mit so viel Intelligenz wie der Postamtsvorsteher einer englischen Provinzstadt. Die eigentliche Verwaltungsarbeit wird hauptsächlich von eingeborenen Untergebenen verrichtet; und das eigentliche Rückgrat der Gewaltherrschaft sind nicht die Beamten, sondern die Armee. Da es die Armee gibt, können sich die Beamten und Geschäftsleute ohne Schwierigkeiten durchwinden, auch wenn sie Idioten sind. Und die meisten von ihnen sind Idioten. Ein stumpfsinniges, anständiges Volk, das seinen Stumpfsinn hinter einer Viertelmillion Bajonette hegt und pflegt und stärkt.
Man lebt in einer erstickenden, verdummenden Welt, in der jedes Wort und jeder Gedanke unter Zensur steht. In England ist es schwer, sich solch eine Atmosphäre auch nur vorzustellen. In England ist jedermann frei; man verkauft seine Seele in der Öffentlichkeit und kauft sie im Privatleben, unter seinen Freunden, zurück. Aber selbst Freundschaft kann es kaum geben, wenn jeder weiße Mann Rädchen im Getriebe eines Despotismus ist. Die freie Re de ist undenkbar. Alle anderen Arten von Freiheiten sind zugelassen: ein Trinker, ein Müßiggänger, ein Feigling, ein Verleumder, ein Wüstling zu sein; aber man hat nicht die Freiheit zu eigenen Gedanken. Die Meinung über jeden Gegenstand von denkbarer Bede utung wird durch den Pukka- Sahib - Kodex vorgeschrieben.
Schließlich wird man von der Geheimhaltung seiner Revolte vergiftet wie von einer geheimen Krankheit. Das ganze Leben ist ein Leben der Lügen. Jahr für Jahr sitzt man in kleinen Clubs, in denen Kipling spukt, rechts einen Whisky, links die Sporting Times, und hört eifrig zustimmend zu, wie Colonel Bodger seine Theorie zum besten gibt, daß diese verdammten Nationalisten in öl gesotten werden sollten. Man hört sich an, wie die eigenen orientalischen Freunde »schmierige kleine Babus« genannt werden, und gibt gehorsam zu, daß sie schmierige kleine Babus sind. Man sieht frisch von der Schule gekommene Lümmel grauhaarige Diener mit Füßen treten. Es kommt die Zeit, da man vor Haß gegen seine eigenen Landsleute glüht, da man einen Eingeborenenaufstand herbeisehnt, der ihr Empire in Blut ertränken würde. Und darin ist nichts Ehrenhaftes, nicht einmal Aufrichtigkeit. Denn was liegt einem in Grunde daran, ob das indische Empire eine Gewaltherrschaft ist, ob nun die Inder tyrannisiert und ausgebeutet werden? Es liegt einem nur daran, weil einem selbst das Recht auf freie Rede verweigert wird. Man ist ein Geschöpf des Despotismus, ein Pukka Sahib, der fester als ein Mönch oder ein Primitiver in ein unerschütterliches System von Tabus verschnürt ist.
Die Zeit verging, und von Jahr zu Jahr fühlte sich Flory weniger zu Hause in der Welt der Sahibs und mehr in Gefahr von Schwierigkeiten, wenn er ernsthaft über irgendein Thema sprach. So hatte er gelernt, ein geheimes Innenleben zu führen, in Büchern und heimlichen Gedanken zu leben, über die man nicht sprechen konnte. Selbst seine Unterhaltungen mit dem Doktor waren eine Art Selbstgespräch; denn der Doktor, der gute Mann, verstand wenig vom Gesagten. Aber es korrumpiert, sein eigentliches Leben im geheimen zu führen. Man sollte mit dem Strom des Lebens leben, nicht gegen ihn. Es wäre besser, der dickschädeligste Pukka Sahib zu sein, der je rülpsend sein Credo von Harrow gegrölt hatte, als stumm und allein dahinzuleben und sic h mit heimlichen, sterilen Welten zu trösten.
Flory war nie wieder in England gewesen. Warum, hätte er nicht erklären können, obwohl er es sehr wohl wußte. Zu Anfang hatten Unglücksfälle ihn gehindert. Zuerst war Krieg, und nach dem Krieg war seine Firma so knapp an ausgebildeten Assistenten, daß man ihn zwei Jahre lang nicht fortlassen wollte. Dann endlich war er abgereist. Er sehnte sich nach England, obwohl er die Begegnung fürchtete, wie man die Begegnung mit einem hübschen Mädchen fürchtet, wenn man unrasiert ist und keinen Kragen umhat. Als er von zu Hause fortgegangen war, war er ein Junge gewesen, ein vielversprechender Junge und gut aussehend trotz seines Muttermals ; jetzt, nur zehn Jahre später, war er gelb, mager, ein Trinker und in seinem Aussehen und Gehaben fast ein Mann in mittleren Jahren. Trotzdem sehnte
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