Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
unflätigen Wörter: Dadurch wusste Jimmy, schon bevor er sie sah, dass es eine Frau war, die sie auslöschten. Dann kam die Figur in der weiten grauen Gefängniskleidung dahergeschlurft, die Haare zurückgebunden, die Handgelenke in Handschellen, weibliche Bewachung zu beiden Seiten, die Augenbinde. Erschießung durch Energiegewehr würde es sein. Es hätte kein Erschießungskommando gebraucht, ein Energiegewehr hätte gereicht, aber sie behielten die alte Tradition bei, fünf in einer Reihe, so dass keiner im Erschießungskommando schlaflose Nächte verbringen musste wegen der virtuellen Kugel, die als erste den Tod gebracht hatte.
    Erschießung gab es nur bei Hochverrat. Ansonsten gab es Gas, oder den Strang oder das große Hirnbrutzeln.
    Eine Männerstimme, Worte, die von außerhalb der Aufnahme kamen: Die Corps-Leute hatten den Ton leise gestellt, weil sie wollten, dass Jimmy sich auf das Visuelle konzentrierte, aber es musste ein Kommando gewesen sein, denn jetzt nahmen die Wachen die Augenbinde ab. Einstellungswechsel zur Nahaufnahme: Die Frau blickte ihn direkt an, direkt aus dem Bild: ein blauäugiger Blick, offen, trotzig, geduldig, verletzt. Aber keine Tränen. Dann wurde plötzlich der Ton lauter. Lebe wohl. Vergiss Killer nicht. Ich liebe dich. Enttäusch mich nicht.
    Keine Frage, es war seine Mutter. Jimmy war schockiert darüber, wie alt sie geworden war: Ihre Haut war zerfurcht, ihr Mund welk. War es das harte Leben, das sie auf der Flucht führen musste, oder war es schlechte Behandlung? Wie lange war sie schon im Gefängnis, in ihrer Gewalt? Was hatten sie mit ihr gemacht?
    Halt, wollte er rufen, aber das war es schon, die Kamera ging zurück, die Augen wieder verbunden, sap sap sap. Schlecht gezielt, rote Spritzer, sie rissen ihr fast den Kopf ab. Eine lange Einstellung, wie sie zusammensackte.
    »Irgendwas dabei, Jimmy?«
    »Nee. Tut mir Leid. Nichts.« Wie hatte sie vorhersehen können, dass er zuschauen würde?
    Sie mussten seinen Herzschlag registriert haben, das Hochschießen des Energiepegels. Nach ein paar neutralen Fragen – »Möchtest du einen Kaffee? Pinkelpause?« – sagte einer von ihnen: »Also wer war dieser Killer?«
    »Killer«, sagte Jimmy. Er fing an zu lachen. »Killer war ein Stinktier.«
    So, jetzt hatte er es getan. Wieder einmal Verrat. Er konnte nicht anders.
    »Kein netter Typ, hm? Irgendein Biker?«
    »Nein«, sagte Jimmy und lachte noch mehr. »Sie kapieren es nicht.
    Ein Stinktier, ein Wakunk. Ein Tier.« Er legte den Kopf auf die Fäuste und lachte Tränen. Warum musste sie Killer da mit reinziehen? Damit er wusste, dass sie’s wirklich war, deswegen. Damit er ihr glaubte. Aber was hatte sie damit gemeint, er solle sie nicht enttäuschen?
    »Tut mir Leid, mein Junge«, sagte der ältere der beiden Corps-Männer. »Wir mussten einfach sichergehen«.
    Es kam Jimmy nicht in den Sinn zu fragen, wann die Exekution denn stattgefunden hatte. Hinterher wurde ihm klar, dass es Jahre her sein konnte. Was, wenn die ganze Sache eine Fälschung war? Es hätte sogar digital gemacht worden sein können, wenigstens die Schüsse, die Blutspritzer, das Zusammenbrechen. Vielleicht war seine Mutter sogar noch am Leben, vielleicht war sie sogar noch auf freiem Fuß. Falls dem so war, was hatte er preisgegeben?

    Die nächsten paar Wochen waren die Schlimmsten, an die er sich erinnern konnte. Zu viele Dinge fielen ihm wieder ein, zu viel von allem, was er verloren oder – noch trauriger – gar nicht erst besessen hatte. All die verschwendete Zeit, und er wusste nicht mal, wer sie verschwendet hatte.
    Er war an den meisten Tagen wütend. Anfangs suchte er seine diversen Geliebten auf, aber er war schlecht gelaunt, er brachte es nicht fertig, unterhaltsam zu sein, und was noch schlimmer war, er hatte das Interesse am Sex verloren. Er hörte auf, ihre E-Mails zu beantworten –
    stimmt irgendwas nicht, war es etwas, was ich getan habe, kann ich was für dich tun –, und rief sie nicht zurück: Es lohnte sich nicht, etwas zu erklären. In früheren Jahren hätte er den Tod seiner Mutter in ein Psychodrama verwandelt, Sympathie geerntet, aber das war es nicht, was er jetzt wollte.
    Was wollte er dann?
    Er ging in die Single-Bars des Komplexes; es war freudlos, er kannte die meisten Frauen schon, brauchte ihre Bedürftigkeit nicht. Er griff auf Internetpornos zurück und fand, dass sie ihren Reiz verloren hatten: Sie waren redundant, mechanisch, ohne ihren früheren Reiz. Er suchte das Web

Weitere Kostenlose Bücher