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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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eine selbst ernannte Installationskünstlerin mit Riesentitten, die ihre Wohnung so verkabelt hatte, dass Millionen von Voyeuren jeden Augenblick ihres Lebens live mitverfolgen konnten. »Hier ist Anna K. die ständig über ihr Glück und ihr Unglück nachdenkt«, lautete die Begrüßung, wenn man sie aufsuchte. Dann konnte man zusehen, wie sie sich die Augenbrauen zupfte, den Bikinibereich mit Warmwachs epilierte, ihre Unterwäsche wusch. Manchmal las sie Szenen aus alten Theaterstücken vor, sie selbst in allen Rollen, während sie auf dem Klo saß und ihre Hose, eine Schlaghose im Retro-Look, sich um ihre Knöchel bauschte. Das war Jimmys erste Begegnung mit Shakespeare – durch Anna K.s Wiedergabe von Macbeth.

    Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
    Kriecht mit so kleinem Schritt von Tag zu Tag, Zur letzten Silb’ auf unserem Lebensblatt;
    Und alle unsere Gestern führten Narr’n
    Den Pfad des stäub’gen Tods…

    las Anna K. schrecklich stümperhaft, aber Schneemensch ist ihr immer dankbar gewesen, weil sie ihm gewissermaßen eine Tür aufgestoßen hat. Was er alles nicht erfahren hätte, wenn sie nicht gewesen wäre!
    Diese Wörter! Verschmachtet, zum Beispiel. Karmesin.
    »Was ist das für ein Mist?«, sagte Crake. »Schalt um!«
    »Nein, warte, warte«, sagte Jimmy, den es plötzlich gepackt hatte.
    Was? Etwas, das er hören wollte. Und Crake wartete, weil er manchmal Geduld mit Jimmy hatte.
    Oder sie sahen die Queek Geek Show, die Wettbewerbe im Vertilgen lebender Tiere und Vögel veranstaltete. Die Zeit wurde mit der Stoppuhr gemessen, und zu gewinnen gab es schwer erhältliche Nahrungsmittel. Es war erstaunlich, was die Leute für ein paar Lammkoteletts oder ein Stück echten Brie alles auf sich nahmen.

    Oder sie sahen Pornoshows. Davon gab es eine Menge.

    Wann hat sich der Körper eigentlich zum ersten Mal auf eigene Faust auf den Weg gemacht, fragt sich Schneemensch, wann hat er seinen alten Weggefährten den Laufpass gegeben, der Seele und dem Geist, die ihn einst bloß als fehlerhaftes Gefäß betrachtet hatten oder als Puppe, von der sie sich ihre Dramen hatten aufführen lassen, oder auch als schlechten Umgang, der die beiden anderen auf Abwege lockte.
    Irgendwann muss der Körper das Dauergenörgel der Seele und das Jammern und die angsterfüllten Hirngespinste des Geistes wohl leid geworden sein, die ihn jedes Mal ablenkten, wenn er die Zähne in etwas Saftigem, die Finger in etwas Gutem versenken wollte. Er hatte die beiden irgendwo sitzen lassen, in einer feuchtkalten Kirche oder einem stickigen Hörsaal, und schnurstracks die nächste Oben-ohne-Bar angesteuert; und mit den beiden war er auch den ganzen kulturellen Ballast losgeworden: Musik und Malerei und Dichtung und Theater.
    Sublimation, alles; nichts als Sublimation, fand der Körper. Wieso nicht einfach Reißaus nehmen?
    Aber der Körper hatte seine eigenen kulturellen Formen. Er hatte seine eigene Kunst. Hinrichtungen waren seine Tragödien, Pornografie seine Romantik.

    Um Zugang zu den ekelhafteren und verbotenen Sites zu bekommen –
    für die man über achtzehn sein musste und ein besonderes Passwort brauchte –, benutzte Crake den Privatcode seines Onkels Pete und ein kompliziertes System, das er Seerosenlabyrinth nannte. Dabei wanderte er auf verschlungenen Wegen durch das Web, bewegte sich aufs Geratewohl durch etliche leicht zugängliche kommerzielle Unternehmen vorwärts, sprang dann von Seerosenblatt zu Seerosenblatt und verwischte seine Spuren hinter sich. Wenn Onkel Pete die Rechnung bekam, konnte er nicht rekonstruieren, wie sie zu Stande gekommen war.
    Crake hatte auch Onkel Petes Vorrat an hochwertigem Vancouver-Marihuana aufgespürt, das in Orangensaftdosen im Gefrierschrank aufbewahrt wurde; er nahm ein gutes Viertel heraus und füllte Teppichkrümel mit niedriger Oktanzahl nach, die man am Kiosk in der Schule für fünfzig Dollar das Säckchen bekam. Onkel Pete würde sowieso nichts merken, sagte er, weil er nie rauchte, außer wenn er Sex mit Crakes Mutter wollte, was gemessen an der Anzahl der Saftdosen und dem Schwund ihres Inhalts nicht allzu häufig vorkam. Den wahren Kick, sagte Crake, bekäme er ohnehin im Büro, wenn er die Leute herumkommandierte und seine Lohnsklaven antrieb. Früher war er Wissenschaftler gewesen, jetzt war er ein ultrahohes Tier in der Direktion von HelthWyzer, irgendwo im Finanzbereich.
    Also drehten sie sich ein paar Joints und rauchten, während sie Hinrichtungen und Pornos

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