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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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wusch! – trifft sein Ohr, bläst die Kerze aus. Ihm ist nicht zuzumuten, sie wieder anzuzünden, denn der Bourbon gewinnt die Oberhand. Er bleibt lieber im Dunkeln sitzen. Er kann spüren, wie Oryx auf ihn zuschwebt auf weichen Federflügeln. Jeden Moment wird sie bei ihm sein. Den Kopf auf dem Schreibtisch und die Augen geschlossen, sitzt er vornübergebeugt auf seinem Sessel in einem Zustand des Elends und des Friedens.

Geiern
    Nach vier verrückten Jahren machte Jimmy seinen Abschluss an der Martha-Graham-Akademie mit einem schäbigen kleinen Diplom in Problematik. Er erwartete nicht, sofort eine Anstellung zu finden, und in dieser Hinsicht hatte er sich nicht getäuscht. Er brachte Wochen damit zu, immer wieder seine kümmerlichen Zeugnisse einzupacken, sie rauszuschicken, sie allzu bald zurückzubekommen, manchmal mit Fettflecken und Fingerabdrücken von irgendeinem kleinen Rad im Getriebe, das im Keller saß und sie durchgeblättert hatte, während es Mittagspause machte. Dann tauschte er jeweils die schmutzigen Seiten aus und schickte den Umschlag wieder los.
    Über den Sommer hatte er einen Ferienjob an der Martha-Graham-Bibliothek ergattert, bei dem er alte Bücher durchging und sie für die Vernichtung vormerkte, während er gleichzeitig entschied, welche in digitaler Form auf der Erde bleiben durften, aber er verlor diesen Posten nach der Hälfte der Laufzeit, weil er es nicht über sich brachte, irgendwas wegzuschmeißen. Danach war er bei seiner damaligen Freundin eingezogen, einer Konzeptkünstlerin namens Amanda Payne mit langen braunen Haaren. Ihr Name war erfunden, wie so manches an ihr: Ihr richtiger Name war Barb Jones. Sie hatte sich neu erfinden müssen, erzählte sie Jimmy, denn die ursprüngliche Barb war so platt gemacht worden von ihrer prügelnden und mit Zucker voll gestopften Proletenfamilie, dass sie sich nur noch wie ein Ladenhüter auf dem Flohmarkt vorkam, wie eine Windglocke aus verbogenen Gabeln oder ein Stuhl mit drei Beinen.
    Genau das hatte ihren Reiz für Jimmy ausgemacht, für den
    »Flohmarkt« an sich schon ein exotisches Konzept war: Er wollte sie flicken, reparieren, den Lack auffrischen. Sie so gut wie neu machen.
    »Du hast ein gutes Herz«, sagte sie zu ihm, als sie ihn das erste Mal in ihren Befestigungsring eingelassen hatte. Korrektur: in ihre Overalls.
    Amanda hatte eine heruntergekommene Eigentumswohnung in einem der Module, die sie mit zwei anderen Künstlern teilte, beides Männer.
    Alle drei kamen aus Plebsland, sie waren mit Hilfe von Stipendien ans Martha Graham gekommen, und sie glaubten, den privilegierten, willenlosen, degenerierten Sprösslingen der Komplexe, Leuten wie
    Jimmy, weit überlegen zu sein. Sie hatten hart sein müssen, einstecken müssen, sich durchkämpfen müssen. Sie beanspruchten eine Klarsicht für sich, die nur der ständige Überlebenskampf mit sich brachte. Einer der Männer hatte einen Selbstmordversuch hinter sich, was ihm – wie er andeutete – besonderen Weitblick verschafft hatte. Der andere hatte Heroin in rauen Mengen gespritzt und auch gedealt, bevor er dann stattdessen, oder möglicherweise zusätzlich, mit Kunst angefangen hatte. Nach den ersten paar Wochen, in denen er sie charismatisch gefunden hatte, kam Jimmy zu dem Schluss, dass die beiden die Klugscheißer vom Dienst waren und aufgeblasene Rotzlöffel obendrein.
    Die beiden, die nicht Amanda waren, duldeten Jimmy, aber nur eben so. Um sich bei ihnen beliebt zu machen, übernahm er von Zeit zu Zeit den Küchendienst – alle drei dieser Künstler verachteten Mikrowellenherde und standen darauf, ihre eigenen Spaghetti zu kochen
    –, aber er war kein besonders guter Koch. Er machte den Fehler, eines Abends einen Becher mit ChickieNobs-Happen heimzubringen – um die Ecke hatte gerade eine Filiale aufgemacht, und das Zeug war gar nicht so schlecht, solange man alles verdrängen konnte, was man über seine Herkunft wusste –, und danach sprachen die beiden, die nicht Amanda waren, kaum noch ein Wort mit ihm.
    Das hielt sie nicht davon ab, miteinander zu sprechen. Sie hatten jede Menge über allen möglichen Mist zu sagen, über den sie etwas zu wissen glaubten, sie ließen empörte Tiraden und indirekte Predigten vom Stapel, die im Grunde – wie Jimmy glaubte – auf ihn zielten. Ihrer Meinung nach war das Spiel in dem Moment gelaufen gewesen, als die Landwirtschaft erfunden worden war, vor sechs- oder siebentausend Jahren. Von dem Zeitpunkt an war das menschliche

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