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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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abgerissen! Dann ist er davonmarschiert und hat gemurmelt, ich wollte seine Frau wohl sterben lassen.«
    Es ist nie leicht für die Angehörigen, wenn ein Patient die Nahrungsaufnahme verweigert. Essen ist eine Lebensnotwendigkeit, weshalb die Familienmitglieder das Essverhalten des Patienten als Barometer dafür benutzen, wie es ihm geht.
    Dass bei uns allen der Appetit mal größer und mal kleiner ist, gerät dabei aus dem Blickfeld.
    »Und was wollte Frank gerade eben?«, fragte ich.
    »Dasselbe. Er wollte wissen, ob ich Ruth dazu bringen kann, ihr Mittagessen zu verzehren. Offenbar hat sie nichts angerührt.«
    Auf dem Weg zu Ruths Zimmer kam ich an Louise vorbei, die schlafend auf einem Sessel saß. Ihren Gehwagen hatte sie ordentlich neben sich geparkt. Wie üblich war sie äußerst gepflegt. Ihr weißes Haar war frisch geschnitten und dezent in Locken gelegt; die hellbeige Bluse passte perfekt zu ihrem Rock, der sittsam die Knie bedeckte. Sie sah so friedlich aus, als wäre sie in der Kirche während des Gottesdienstes eingeschlummert und schwebte mit den Gedanken nun im Paradies. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was sie wohl gerade träumte.
    Das ist eine äußerst interessante Frage. Träumen Menschen mit Demenz dasselbe wie früher, oder sind ihre Träume chaotisch und unruhig, weil sie von der Krankheit beeinflusst werden? Gönnen Träume diesen Menschen eine Ruhepause von der Verwirrung, die sie im Wachzustand umgibt, oder tragen sie dazu bei? Darüber denke ich immer wieder nach. Schließlich sind viele Wissenschaftler der Ansicht, das Träumen sei ein entscheidender Faktor des Lernens, weil das Gehirn sich dabei neu organisiere, Erinnerungen verarbeite und diese eventuell speichere, damit sie später wieder aufgegriffen werden könnten. Was bedeutet das für Patienten mit Gedächtnisschwäche?
    Und welche Rolle spielt dabei die Art der Medikation? In frühen Stadien der Demenz werden Patienten oft mit Alzheimer-Medikamenten behandelt, durch die der Acetylcholinspiegel im Gehirn erhöht wird, was tiefe und manchmal beunruhigende Träume hervorrufen kann. In späteren Stadien der Krankheit hört man jedoch immer weniger über die Träume der Patienten. Vielleicht empfinden diese das Traumgeschehen nicht mehr als so wichtig oder erinnernswert, oder sie können sich überhaupt nicht mehr dar-an erinnern. Während ich Louise leise vor sich hin schnarchen sah, hoffte ich dennoch, dass sie in ihrer Traumwelt Frieden fand und dass manche der Erinnerungen, zu denen sie wach keinen Zugang mehr hatte, im Schlaf doch noch wiederkamen.
    Träumte sie wohl von ihrem Mann? Von ihm stand ein Bild in ihrem Zimmer, in einer Luftwaffenuniform, kurz vor oder nach einem Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Louises Leben damals gewesen war, wie viel Angst und Einsamkeit sie erfahren hatte, weil sie jemanden liebte, der irgendwo in der Ferne war. Vielleicht träumte sie davon oder von seiner Heimkehr aus dem Krieg. Wie groß ihre Freude gewesen sein musste, als sie ihn wiedersah und das Leben mit ihm wieder aufnehmen konnte, das von den Ereignissen der Weltgeschichte unterbrochen worden war!
    Manche Erinnerungen sollten eigentlich nie verloren gehen. Findet man sie wohl in Träumen wieder?

    Ruth lag mit geschlossenen Augen im Bett. Sie schien jedoch nicht zu schlafen, denn sie wirkte sehr unruhig. Ich klopfte an die Innenseite der Tür, um mein Kommen zu signalisieren. Dabei schreckte Ruth auf und öffnete die Augen. Frank, der vor sich hin gedöst hatte, erhob sich ruckartig und schaute in meine Richtung.
    »Ach, Dr.Dosa!«, sagte er mit bekümmerter Stimme. »Ich bin so froh, dass Sie da sind.«
    »Wie geht es ihr?«, fragte ich, während ich zum Bett trat.
    »Nicht gut, Doktor, gar nicht gut. Ich weiß nicht mal, weshalb man sie aus der Klinik entlassen hat. Sie ist noch immer sehr verwirrt.«
    Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich neben Frank. »Sie deliriert, Mr.Rubenstein.«
    »Was soll das heißen? Hat sie noch immer eine Lungenentzündung?«
    »Nein, die wurde ja kuriert. Aber wenn ältere Menschen erkranken, führen solche Infektionen manchmal dazu, dass sie anschließend verwirrt sind. Für diesen Zustand verwenden wir den Ausdruck
Delirium.
Es handelt sich um eine veränderte Art und Weise, wie der Patient sich und seine Umgebung wahrnimmt. Deshalb ist Ruth momentan so erregt.«
    Frank starrte mich mit leerem Blick an. Ich versuchte es mit einer anderen Erklärung.
    »Ihr

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